Anneliese Dieckmann-Nolting

 

Celso

Canudos in Recklinghausen

Die Ruhrfestspiele in Recklinghausen warteten in diesem Jahr mit einem besonderen Highlight auf. Das Teatro Oficina aus São Paulo mit seinem Regisseur Zé Celso gastierte mit zwei Vorstellungsserien in der Grubenausbauwerkstatt der Zeche Auguste Viktoria in Marl-Hüls. Das Stück ‚Krieg im Sertão’, ein “mehrteiliges Musik-Theater-Spektakel mit über 80 Akteuren zwischen Schauspiel, Samba, Karneval, Capoeira und Zirkus” thematisiert den Aufstand der Armen in den Dürregebieten des Nordostens und die Schlacht um Canudos 1897.

Canudos – der Name dieses Ortes im trockenen Hinterland des Nordostens hat Symbolkraft in der brasilianischen Geschichte. Es war ein Ort, in dem die Ärmsten der Armen und die Ausgestoßenen der Gesellschaft der gerade gegründeten Republik eine Zuflucht fanden. Sie sammelten sich Ende des 19.Jahrhunderts um den Wanderprediger Antonio Conselheiro und versuchten, ein religiöses Leben nach urchristlichen Prinzipien zu führen. Etwa 10000 Einwohner soll dieser Ort umfasst haben, als er zum Zentrum einer blutigen Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Antonio Conselheiro und dem Militär der jungen Republik wurde. Diesen ‚Krieg im Sertão’ schildert Euclides da Cunha in seinem monumentalen Werk ‚Os Sertões’, das 1902 erschien und grundlegende Bedeutung für das brasilianische Selbstverständnis gewann. Die zwei Welten, die in diesem Krieg aufeinanderstoßen, das europäisch geprägte, weiße, ‚fortschrittliche’ Brasilien und das der armen, rückständigen ‚Hinterwäldler’, existieren bis heute. Das grundlegende Problem, wie die moderne technologische Welt mit denen umgeht, an denen ‚Fortschritt’ und ‚Wohlstand’ vorbeigegangen sind, die sich gar gegen die Einflüsse des areligiösen materiell ausgerichteten Lebens wehren,  ist weiterhin ungelöst.

Das Werk von Euclides da Cunha (vgl. Brasilien-Dialog 3/4/02 ), ins Deutsche übersetzt von Berthold Zilly, bildet die Vorlage für das Stück, das an vier Abenden mit zweimal sechs und zweimal vier Stunden präsentiert wird. Ein Unternehmen, das man nur wagen kann, wenn die Zuschauerzahlen nicht das ausschlaggebende Kriterium sind – zumal nur ein kleiner Teil des Textes bzw. Übertitelungen in deutscher Sprache gegeben werden. Den Zugang zum Inhalt erleichtert eine Einführung von Berthold Zilly vor jeder Vorstellung.

 

Die einzelnen Teile des Theaters orientieren sich an der Vorlage. Der erste Teil ‚Das Land’ “beginnt allen Ernstes bei der Geologie. Den ganzen ersten Abend lang singt und erzählt die Truppe von Bergen und Flüssen und Pflanzen. Das ist sehr poetisch, zieht sich aber – es würde nicht schaden, wenn der eine oder andere Baum ungenannt bliebe”, schreibt die Rezensentin der WAZ. Dem “Schnellkurs in vier profunden Geschichtsstunden” des ersten Abends folgt ein “ethnologisches Theaterfest” Das Kapitel ‚Der Mensch’ wird auf zwei Abende aufgeteilt. Am ersten wird erzählt, wie sich Indios, Europäer und Sklaven zum brasilianischen Menschen vermischen. Den engsten Bezug zur Textvorlage hat ‚Der Mensch, Teil 2’, in dem es um die eigentliche Geschichte der Gemeinde von Canudos und ihres Predigers Antonio Conselheiro - Ratgeber genannt - geht. ‚Der Kampf’, der vorerst vierte Teil des Projektes, ist noch gar nicht fertig und wird als öffentliche Theaterprobe gegeben – koproduziert von den Ruhrfestspielen.

Die Aufführungen aber bieten eine sehr freie Bearbeitung der Textvorlage. Fast alle Rezensenten weisen auf die Vielfalt der Formen und Sprachen hin, deren sich der Regisseur Zé Celso bedient. Er gilt als Begründer einer neuen brasilianischen Dramatik – ähnlich wie der dem deutschen Publikum wohl schon bekanntere Augusto Boal mit dem ‚Theater der Unterdrückten’. Beide gingen aus dem Teatro des Arena in São Paulo hervor, beide setzten sich mit dem Brechtschen Theater auseinander und beide gingen in den siebziger Jahren zur Zeit der Militärdiktatur ins Exil, womit eine der fruchtbarsten Epochen des brasilianischen Theaters zu Ende ging. 1978 kehrte Zé Celso zurück, 1979 auch Boal.

Wie Boal will Celso den Zuschauer aktivieren, zum Mitmachen animieren. Wie er hat auch Celso die Unterdrückten im Visier. “Die Ausgeschlossenen und sozial Ausgegrenzten, die den Großteil der Weltbevölkerung ausmachen, sind heute bereit, außerordentliche Dinge zu vollbringen” sagt Zé Celso. “Eine Gesellschaft, die Angst vor dem Terror hat, die völlig verunsichert ist, die die Welt in Gut und Böse zerteilt, in Richtiges und Falsches, läuft Gefahr, die ganze Zivilisation auf eine schreckliche Weise zu reduzieren und kulturell zu verkürzen.”. Wie der legendäre Ratgeber eine Gemeinschaft von Armen um sich sammelte, so ist Zé Celso die Integrationsfigur im Teatro Oficia, im living-theatre, in dem  heterogen Persönlichkeiten, auch Laien und eine Gruppe von Straßenkindern mitspielen. In der Zechenhalle in Marl fällt der 67jährige mit seiner langen weißen Mähne und der schwarzen Kleidung sofort auf. Die Rolle des Antonio Conselheiro scheint diesem “Theater-Eks tatiker” auf den Leib geschrieben.

Nach seiner Rückkehr aus dem Exil bezog das Teatro Oficina eine von Stararchitektin Lina Bo Bardi zum Theater umfunktionierte Fabrikhalle, schmal und lang wie eine Straße (4x34 Meter. Zuschauer säumen diesen Gang über vier Stockwerke in einem fest installierten Baugerüst – eine Konstruktion, die in der Aufführungshalle für die Ruhrfestspiele nachgebaut wurde. Hier verteilen sich die Zuschauer auf drei Etagen, die aber auch von den Schauspielern als Spiel-Raum genutzt werden.  Die Bühnenstraße besteht aus einem braunen Lehmboden, an einer Seite von Musikern begrenzt. Ständig verfolgt eine Videokamera das Bühnengeschehen und projiziert Nahaufnahmen oder – in Brechtscher Verfremdungsmanier – Verweis-Bilder auf eine große Leinwand.

Was die Zuschauer bei den Ruhrfestspielen erleben, bezeichnet Celso in einem Interview als ein “Beispiel der sehr brasilianischen ‚arte orgiastica’”. Er will - ganz anders als Brecht und Boal – nicht aufklären oder politisches Bewusstsein bilden. Weder Raum für Reflexion noch bloßes Entertainment sei das Theater, sondern “ein Raum menschlicher Power, ein Platz für den Akt der Liebe.” Das Theater soll das Getrennte vereinen, einen Akt der Kommunikation, ja der “Vereinigung in der Kommunion” darstellen. Dieses Vokabular ist nicht zufällig, versucht Celso doch an die religiösen Ursprünge des Theater in der Antike anzuknüpfen. Orientierungspunkt bietet ihm dabei Nietzsches Auffassung vom Theater als dionysischem Ort. “Was wir brauchen, ist eine sexuelle Religion. Im Sinne einer Wieder-Vereinigung der Menschheit; auch und gerade durch das Theater.” So spielen Musik, Tanzen und chorisches Singen nicht nur beim Ursprung der Tragödie, sondern auch in Celsos Theater eine große Rolle.

Sein Theater setzt auf Sinnlichkeit – auch Nacktheit - und auf Emotionen, verwendet eine sehr symbolhaltige Sprache und verknüpft die verschiedensten Darstellungsformen in einer Art Gesamtkunstwerk, genannt ‚ tragicomediorgia’, “denn Tragödie, Komödie und Orgie waren immer darin”. Auch Elemente aus dem Zirkus, aus dem Karneval oder aus Volksfesttraditionen verschmelzen in diesem theatralischen Fest. Verbindungen zwischen gestern und heute, zwischen dem Kampf um Troja, dem Kampf um Canudos und dem Kampf im Irak  werden hergestellt. Lateinamerika und Recklinghausen erscheinen zusammengerückt wenn Schauspieler und Zuschauer in der Ruhrpott-Polonaise den Marsch der Armen durch den Sertão nachstellen. Die Armen – das sind heute u.a. die Landlosen Brasiliens, organisiert in der MST (Movimento Sem Terra), deren rote Fahnen auf der Bühne geschwenkt werden.

Die Verknüpfung solch vielfältiger Elemente birgt Gefahren, “denn natürlich ist zwischen Verführen und Verarschen auch hier, in diesem Theater der Maßlosigkeit, nicht viel mehr als ein ziemlich schmaler Grat.”(12) Die Parteinahme für die Unterdrückten in Canudos oder in Afghanistan erscheint letztlich als zu beliebiger Stoff für das eigentliche Anliegen eines theatralischen Festes.

Die Herausbildung der brasilianischen Nation als Integration vieler heterogener Elemente kann aber als Parabel verstanden werden in einer Welt, in der kulturelle Verschiedenheit einmal mehr zu Gewalt und Krieg zu führen droht. Das muss nicht so sein. Michael Laages stellt in ‚Theater Heute’ die Frage, ob wohl jemand darauf kommen werde, wie gut das brasilianische Gastspiel gerade in das Ruhrgebiet passe, einer Region, wo “die Geburt der Nation’ wie nirgends sonst aus Prinzip multikulturell strukturiert war und auch ohne Schwarze und Indianer und Wüste ein ganz klein wenig  ‚brasilianisch’? Wo sich die Tibulskis und Cypionkas damals (und die Altuns heute) zwar kein Canudos bauten, aber andere Träume von der Idylle entwarfen.”