Dialog 1/2/04

Sicherheitspolitik

 “Militär und Parlament in Lateinamerika: Eine kritische Betrachtung der Kontrolltätigkeit der brasilianischen Verteidigungsausschüsse” von Daniel Flemes

 ARBEITSPAPIER Nr. 14, des Forschungsprojektes: “Zur Arbeitsweise von Parlamenten in präsidentiellen und parlamentarischen Demokratien: Brasilien und Deutschland in vergleichender Perspektive” des INSTITUT FÜR IBEROAMERIKAKUNDE, Hamburg, Januar 2004

1. Lateinamerikanischer Kontext

Der Autor beginnt seine Darstellung mit Überlegungen zum institutionalen Kontext und dem Politikfeld Verteidigung in Lateinamerika. Er weist darauf hin,dass es zur Überwindung der “historischen Spannungen” zwischen zivilen und militärischen Akteuren in Lateinamerika der Entwicklung demokratischer Verteidigungspolitiken bedarf. Gerade hier aber gibt es “Asymetrien” zwischen Gesetzgeber, Regierung und Streitkräften. Im Verteidigungssektor wirken sich die Informationsasymmetrien besonders drastisch aus, weil das Informationsgefälle zugunsten der hochspezialisierten Militärinstitutionen bereits aufgrund anderer Faktoren, wie etwa der Geheimhaltungspflicht, recht ausgeprägt ist.

Die Exekutive beansprucht häufig ein Exklusivrecht auf die “sensiblen Informationen” aus dem Verteidigungssektor und besteht auf der Geheimhaltung von Materialien, die die “nationale Sicherheit” betreffen. Diese Kultur der Geheimhaltung in Verteidigungsfragen entfaltet ihre Wirkung häufig bis in die Haushaltsausschüsse der Parlamente, so dass eine Kontrolle der Verteidigungspolitik und der Streitkräfte über den Militärhaushalt schwierig wird.

“In der Vergangenheit kam den lateinamerikanischen Parlamenten im Konzert der

Institutionen eine eher untergeordnete Rolle als «Erfüllungsgehilfen der Exekutive» zu. Der in der Tradition des autoritären Caudillismo stehende lateinamerikanische Präsidentialismus ließ den Repräsentativorganen wenig Raum zur Entfaltung. Die Regierungssysteme waren seit den Unabhängigkeitserklärungen weit mehr von charismatischen oder weniger charismatischen Präsidenten sowie von der politischen Präsenz der Streitkräfte geprägt als von ihren Parlamenten. Das politische Wirken des Militärs ist ein Erklärungsfaktor dafür, dass nur wenige Abgeordnete und Senatoren mit verteidigungspolitischen Fragen befasst sind. Denn die Militär-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik gilt in den Staaten des Subkontinents von jeher als eine Domäne der Generäle. Im Zusammenspiel der drei Gewalten genießt die

Exekutive traditionell ein Exklusivrecht bei der Behandlung von verteidigungspolitischen (und außenpolitischen) Fragen. Folglich steht der Intensivierung der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte in den lateinamerikanischen Staaten ein Problemkonnex aus institutionellen und politisch-kulturellen Faktoren entgegen.” (S.4)

Äußere Sicherheit und Verteidigung werden in Lateinamerika im Gegensatz zu den öffentlichen Gütern Erziehung und Gesundheit ausschließlich vom Staat bereitgestellt. Eine öffentliche Diskussion über verteidigungspolitische Themen findet kaum statt. Die brasilianische Militärakademie, die «Escola Superior de Guerra» widmet sich nur großen nationalen Strategien zu, wie der Kontrolle des Amazonasraumes durch das Radarsystem Sivam. Sonst herrscht ein Desinteresse der breiten Öffentlichkeit an verteidigungspolitischen Fragen.

 

2.Die brasilianischen Sicherheitsorgane

 Der brasilianische Präsident führt das Oberkommando über die nationalen Streitkräfte (Forças Armadas Brasileiras). Über den Einsatz des Militärs zur “Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung” entscheiden nach Art. 142 der brasilianischen Verfassung neben dem Oberbefehlshaber auch die Führungsinstanzen von Legislative und Judikative. Den Verteidigungsfall kann der Präsident gemäß Art. 136 ausrufen nach Anhörung des Rates der Republik und des Nationalen Verteidigungsrates. Allerdings muss der Kongress das den Verteidigungsfall erklärende Präsidialdekret mit absoluter Mehrheit bestätigen.

Die Regierung Cardoso  schuf 1999 ein zivil geführtes Verteidigungsministerium. Die drei Ministerien der Armee, Luftwaffe und Marine wurden in Kommandoleitstellen überführt, an der Spitze der Teilstreitkräfte stehen vom Präsidenten ernannte Oberkommandierende, die gemeinsam mit dem Verteidigungsminister und dem Chef des Generalstabes den Militärischen Verteidigungsrat bilden. Dieser ist im Ministerium für Verteidigung angesiedelt

Zu den Aufgaben des nach einigen Diskussionen und Widerständen  gegründeten neuen Ministeriums gehören u.a. die Beteiligung Brasiliens an internationalen Friedensoperationen, Beiträge zur nationalen Entwicklung, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Zivilverteidigung .

Neben dem Präsidenten sind in Brasilien folgende Regierungsbehörden für das Militär zuständig:

“1) Das Sicherheitskabinett im Präsidialamt der Republik (Gabinete de Segurança Institucional - GSI) mit einem vom Präsidenten bestimmten Heeresgeneral an der Spitze. Derzeit wird das GSI von General Jorge Félix präsidiert. Das GSI ist im Präsidialamt angesiedelt und somit ein Organ der Exekutive. Die Zuständigkeiten des

GSI sind sehr umfassend formuliert und gesetzlich festgeschrieben. Die Aufrechterhaltung der institutionellen Stabilität zählt ebenso wie Krisenmanagement und die Beratung des Präsidenten in allen Militär- und Sicherheitsfragen zu den Aufgaben des Sicherheitskabinetts. Weiterhin soll dieses Exekutivorgan die Durchführung des Polizeidienstes gewährleisten.

2) Die Brasilianische Geheimdienstzentrale (Agência Brasileira de Inteligência - ABIN) ist im GSI angesiedelt. Hier sollen die Erkenntnisse der militärischen

Nachrichtendienste des Heeres, der Luftwaffe und der Marine zusammengeführt sowie die Geheimdienstaktivitäten des Justiz- und Finanzministeriums, der Bundespolizei und der Polizeibehörden in den Bundesstaaten und den Munizipien koordiniert werden.

3) Das Nationale Antidrogensekretariat (Secretaria Nacional Antidrogas - SENAD) ist ebenfalls dem Sicherheitskabinett unterstellt und für die Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität zuständig.

4) Bei dem von der Verfassung vorgeschriebenen Nationalen Verteidigungsrat (Conselho de Defesa Nacional - CDN) handelt es sich um ein Konsultativorgan des Präsidenten, welches für Angelegenheiten der Nationalen Souveränität und für die Verteidigung des ”demokratischen Staates” zuständig ist. Gemäß Art. 91 der Bundesverfassung berät der Verteidigungsrat den Präsidenten zu Fragen der Bundesintervention und zur Ausrufung des Verteidigungs- und Belagerungszustands. Seit  der Verfassungsänderung von 1999 (EmendaConstitucional 23/99) in Art. 91 gehört auch der brasilianische Verteidigungsminister als Mitglied dem Nationalen Verteidigungsrat an .

5) Der Rat der Republik (Conselho da República) hat gemäß Art. 90 der Verfassung die Aufgabe sich zur Bundesintervention und zur Ausrufung des Verteidigungs- und Belagerungszustands sowie zu Angelegenheiten mit Relevanz für die Stabilität der demokratischen Institutionen zu äußern.

6) Das von Präsident Cardoso eingerichtete Beratungsgremium für Außenbeziehungen und Nationale Verteidigung (Câmara de Relaçôes Exteriores e Defesa Nacional -CREDEN) war zunächst mit der Ausarbeitung der Leitlinien der Verteidigungspolitik von 1998 beauftragt und soll auch in der Zukunft die Strategien zur nationalen Sicherheit und Verteidigung entwerfen.” (S.8/9)

3. Kompetenzen und Instrumente der brasilianischen Verteidigungsausschüsse

Für die parlamentarische Kontrolle der brasilianischen Streitkräfte sind jeweils ein Fachausschuss in der Abgeordnetenkammer und im Senat verantwortlich. Sowohl der Ausschuss der Abgeordnetenkammer CREDN (Comissão de Relações Exteriores e de Defesa Nacional) als auch der Senatsausschuss CRE (Comissão de Relações Exteriores e Defesa Nacional) sind für jeweils die beiden Ressorts zuständig: Auswärtige Beziehungen und Nationale Verteidigung. Darüber hinaus tagt im Abgeordnetenhaus der Ausschuss für Amazonien und Regionale Entwicklung (CADR), der gelegentlich verteidigungspolitische Themen behandelt.

Im Jahre 1999 wurde auch ein gemischter Kongressausschuss (Comissão Mista do Congresso Nacional) gegründet, um die Aktivitäten der Geheimdienstzentrale ABIN zu kontrollieren. Die Mitglieder dieser Kommission sind die Mehrheits- und Minderheitsführer im Kongress sowie die Vorsitzenden der Ausschüsse für auswärtige Beziehungen und nationale Verteidigung in Abgeordnetenhaus und Senat. Der Bundesrechnungshof (Tribunal de Contas da União) überprüft den Haushalt der Geheimdienste.

Der kompetente Autor der sehr übersichtlichen Darstellung Daniel Flemes greift das manchmal erwähnte Argument auf, dass durch die Mitgliedschaft der Präsidenten beider Kongresskammern die parlamentarische Kontrolle gewährleistet sei, verwirft es jedoch, denn “weder das Sicherheitskabinett (GSI) noch die CREDN sind einer konkreten parlamentarischen Kontrolle unterworfen.”

Mit folgenden Mechanismen können allerdings der Ausschuss oder die einzelnen Abgeordneten die Regierungsakteure, einschließlich der Streitkräfte, einer parlamentarischen Kontrolle unterziehen:

 “Das formal schärfste Kontrollinstrument besteht gemäß Art. 50 der Verfassung

in der Einbestellung des Verteidigungsministers (convocação de ministro), da es diesen

gesetzlich verpflichtet, vor dem Ausschuss zu erscheinen, wobei er jedoch die Auskunft

verweigern kann. Dieses Instrument findet in der brasilianischen parlamentarischen Praxis kaum Anwendung. Es wird zumeist durch die freundlich formulierte Einladung (convite) des Ministers ersetzt, die jedoch keine juristische Handhabe bietet. Am häufigsten rekurriert wird auf das Instrument der öffentlichen Sitzungen (audiencia pública), das trotz seines geringen formalen Stellenwertes das effizienteste Kontrollinstrument in der parlamentarischen Praxis darstellt. Der einzelne Abgeordnete hat weiterhin die Möglichkeit zu beantragen, hinsichtlich einer bestimmten etwa verteidigungspolitischen Frage von der Exekutive informiert zu werden (requerimento de informação). Ein weiteres Instrument, über das CRE und CREDN verfügen, besteht darin den Rechnungshof (Tribunal de Contas da União) mit der Untersuchung der Finanzierung bestimmter (Rüstungs-)Projekte zu beauftragen. Darüber hinaus können die Außen- und Verteidigungsausschüsse provisorische Unterauschüsse (comissões temporárias) gründen, um einzelne militärische Projekte, wie z.B. Calha Norte und SIVAM zu besuchen und genauer zu untersuchen.” (S.12/13)

Kongressbefragungen, die zur Offenlegung von Fehlentwicklungen innerhalb der Militärinstitutionen führten, haben Seltenheitswert. Von den 123 öffentlichen Anhörungen der Außen- und Verteidigungsusschüsse der beiden Kammern im Zeitraum 1997 bis Mai 2003 betrafen lediglich 28 die Streitkräfte, davon 24 vom Ausschuss der Abgeordnetenkammer (CREDN). “Ein Grossteil der 24 von der CREDN angesetzten Anhörungen befasste sich mit der Planung des 1999 gegründeten zivilen Verteidigungsministeriums, dessen militärisch dominierte Organisationsstruktur der Verteidigungsausschuss jedoch weder verhindern noch modifizieren konnte”, stellt der Autor etwas resignierend fest und spricht im Folgenden von der unterentwickelten Interventionsfähigkeit der Kongressausschüsse.

Ähnliches gilt für die verteidigungspolitischen Gesetzesinitiativen. Von den 251 Gesetzesvorlagen aus dem Kongress im Zeitraum 1989 bis 2001 erhielten nur fünf Gesetzescharakter, während von 53 Gesetzvorlagen der Regierung 35 Gesetzescharakter erlangten.

4. Ursachen für die defizitäre Gesetzgebungs- und Kontrolltätigkeit

In einem längeren Abschnitt geht dann der Autor auf die Ursachen für die defizitäre Gesetzgebungs- und Kontrolltätigkeit der brasilianischen Legislative im Verteidigungssektor ein. Seit dem 19. Jahrhundert ist Brasilien nicht mehr in kriegerische Auseinandersetzungen auf dem amerikanischen Kontinent involviert gewesen, so dass die historische Entwicklung des Landes nicht zur Herausbildung einer strategischen Kultur beigetragen hat. Das brasilianische Expeditionskorps im Zweiten Weltkrieg war eine kurze, wenn auch noch recht präsente Episode, könnte man ergänzen. Der Kalte Krieg mit seinem latenten Konfliktpotential für die Staaten der Peripherie ist zu Ende. Die brasilianische Öffentlichkeit nimmt zur Recht keine Gefahren für die nationale Sicherheit wahr, das gilt auch weitgehend für den Mediensektor. Es zeichnet sich eher eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit und Institutionalisierung mit den Mercosul-Partnern ab.

Der Verteidigungsausschuss der Abgeordnetenkammer selbst, der überwiegend aus unauffälligen Parlamentariern besteht, legitimiert allzu oft die verteidigungspolitische Linie der Regierung oder der Streitkräfte, ohne allerdings zuvor an ihrer Formulierung mitgewirkt zu haben. “Marcelo Zero, ehemaliger verteidigungspolitischer Sprecher des PT, führte die mangelnden Kontrollaktivitäten gar auf einen temor reverencial zurück – also auf eine von Ehrerbietung erfüllte Angst, sich mit den Streitkräften kritisch auseinander zu setzen - unter dem viele Parlamentarier litten” (S.16)

Andererseits bemühen sich die Mitglieder der Verteidigungsausschüsse um den Einsatz der

Streitkräfte zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, denn das bedeutet öffentliches Interesse. Ähnlich populär - und demnach von den um ihre Wiederwahl bangenden Abgeordneten mit Nachdruck vertreten - ist der Einsatz des Militärs im sozialen Sektor.

Der Autor dieser Darstellung sieht eine Möglichkeit effizienter Einflussnahme des Parlaments über die gründliche Prüfung des Militärhaushaltes. Dazu wäre aber die Bereitschaft der Regierung zu mehr Transparenz in verteidigunspolitischen Budgetfragen nötig. Bisher wird der Kongress mit rein buchhalterischen Informationen abgefertigt. Die weitreichende Handlungautonomie der Militärinstitutionen stellt selbst die Regierung vor vollendete Tatsachen. Erschwerend kommt noch die sehr effiziente Lobbytätigkeit der Streitkräfte innerhalb des Kongresses hinzu. Sie verfügen über eigene parlamentarische Beratungsdienste, wobei die “Assessoria Parlamentar” des Heeres besonders erfolgreich tätig ist. “Am häufigsten intervenierte die Militärlobby in den letzten Jahren zu Budgetfragen, zu der Rolle der Streitkräfte in Amazonien sowie zu der Problematik um Amnestie für die Täter bzw. Wiedergutmachung für die Opfer des Militärregimes. Vor allem die Einflussnahme in dem letztgenannten Themenfeld ist aus mindestens zweierlei Gründen höchstbedenklich: Erstens ist hier kein objektives Urteil seitens der Streitkräfte zu erwarten und zweitens steht den

Repressionsopfern kein derartig professioneller, aus öffentlichen Kassen finanzierterOrganisationsapparat zur Verfügung, um ihre Interessen im Gesetzgebungsprozess zu vertreten.” (S.19)

Der Einfluss der Militärlobby auf die Entscheidungen des Kongresses - so das Fazit des Autors - ist wirksamer als der Einfluss der Verteidigungsausschüsse des Kongresses auf den Verteidigungssektor.

Fr.Os.