Susanne Käss* 




AGRAREFORM
DAS SEIT JAHRHUNDERTEN WäHRENDE PROBLEM DER LANDVERTEILUNG 

In Brasilien kommt es regelmäßig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Großgrundbesitzern, Landlosen und der Staatsgewalt. Im Jahr 2003 kamen bei solchen Landkonflikten über 60 Menschen ums Leben. Eine maßgebliche Ursache dieser Konflikte liegt in der ungleichen Landverteilung. Nach offiziellen Daten der brasilianischen Regierung (Atlas Fundiário) besaß Mitte der 90er Jahre 1% der brasilianischen Bevölkerung 43% des Landes in Privatbesitz. Die Kleinst- und Kleinbetriebe bis 20 ha, die etwa zwei Drittel aller Betriebe ausmachen, bewirtschaften heute nur weniger als 6% der landwirtschaftliche genutzten Fläche. Den Großbetrieben mit mehr als 500 ha hingegen gehören fast zwei Drittel der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Der Gini-Koeffizient , der die Konzentration der Landverteilung misst, lag in Brasilien nach den Daten des Zensus von 1995/96 bei 0,856. Auf nur 60 Millionen der insgesamt 400 Millionen Hektar Land in privatem Besitz wird in Brasilien Ackerbau betrieben. Die restlichen 340 Millionen Hektar werden zur Viehzucht verwendet oder liegen brach. 

Koloniales Erbe 

Die Wurzeln der ungleichen Landverteilung und der aktuellen Konflikte in Brasilien liegen in der Kolonialzeit. Nach der Entdeckung Brasiliens im Jahre 1500 wurde das Land von den portugiesischen Kolonialherren in 12 Kapitanien eingeteilt. Der Großgrundbesitz befand sich fest in Händen von Freunden des portugiesischen Königs. Das System der Kapitanien wurde von dem System der ”sesmarias” abgelöst: Große Ländereien wurden denjenigen übergeben, die sich bereit erklärten, sie zu bewirtschaften und der Krone ein Sechstel der Produktion zu übergeben. Drei Jahrhunderte lang wurden mit Hilfe der Sklaverei von den Großgrundbesitzern Monokulturen angebaut, vor allen Dingen Zuckerrohr und Kaffee. Nach der brasilianischen Unabhängigkeit 1822 führte die kurzzeitig unklare Gesetzeslage zu einer Landnahme kleinerer Ländereien von freien Männern, aber die Nummer der Landbesitzer blieb weiterhin klein. 

1850 wurde in Brasilien der Sklavenhandel verboten und es war vorauszusehen, dass es mit dem Ende der Sklaverei einen Ansturm auf die Millionen Hektar nicht genutzten Landes geben würde. Um den daraus resultierenden Mangel an billigen Arbeitskräften für die Großgrundbesitzer zu verhindern, wurde 1850 ein neues Landgesetz (Lei de Terras) erlassen. Danach konnte Eigentum und Land nur erwerben, wer es kaufte oder seine Nutzung im Grundbuch durch eine entsprechende Abgabe an die Krone legalisierte. Der Zugang zu Land wurde dadurch auf diejenigen beschränkt, die bereits Land besaßen oder über Kapital verfügten. Für die meisten der befreiten Sklaven gab es dadurch keine nennenswerte Alternative zu der schlecht bezahlten Arbeit auf Zuckerrohr-, Kaffee- und Kakaoplantagen. 

Im Süden allerdings konnten europäische Immigranten mittlere Ländereien erhalten, da man Siedler benötigte, um die Landesgrenzen zu sichern. Die Staaten des brasilianischen Südens haben heute weniger Probleme mit der ungleichen Landverteilung; es gibt nur wenige unproduktive Großgrundbesitze und kaum ungeklärte Besitzverhältnisse. 

    35    Studium der Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien in Passau, zur Zeit Praktikum im Studienzentrum der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rio de Janeiro