Die
wichtigste Figur des Widerstandes gegen die letzte Militärdiktatur in Brasilien,
Leonel de Moura Brizola, ist tot. Er starb im Alter von 82 Jahren in Rio de
Janeiro. Präsident Lula da Silva ordnete eine dreitägige Staatstrauer an. Wegen
seines entschlossenen Widerstandes gegen das Militärregime der Jahre 1964 bis
1985 musste der legendäre linke Führer Brizola fast 15 Jahre im Exil in Uruguay
verbringen
Kindheit und
Jugend
Brizola wurde am 22. Januar
1922 mit dem Namen Itagiba in der Siedlung Cruzinha geboren, das damals zum
Distrikt von Passo Fundo gehörte,
heute Munizip Carazinho in Rio Grande do Sul. Er war der jüngste Sohn einer
armen Bauernfamilie, die nicht einmal den Besitztitel für das Stück Land besaß,
auf dem sie lebte.
Sein Vater,José de Oliveira
Brizola, war Viehhändler und Landwirt, seine Mutter Oniva Moura Brizola, war
Grundschullehrerin und hatte vier weitere Kinder. Seinen Vater verlor Leonel
sehr früh durch den Bürgerkrieg in Rio Grande do Sul im Jahre 1923. Dort gab es
einen Konflikt zwischen Ximangos, Parteigänger des Präsidenten Antônio Augusto
Borges de Medeiros, und den Maragatos, Föderalisten der Aliança Libertadora,
angeführt von Joaquim Francisco de Assis Brasil. Der Vater Brizolas schrieb sich
in das Heer der Maragatos unter dem Kommando von Leonel Rocha ein. Durch die
Vermittlung des Kriegsministers endete der Krieg jedoch schnell. Aber José
Brizola wurde als kleiner Bauer Opfer der Repressalien der Regierungstruppen.
Sie holten ihn aus seinem Haus und führten ihn zur Massenexekution. Im Andenken
an den Kommandanten seines Vaters nannte sich der Junge Itagiba später Leonel.
Seine Mutter verlor vor Gericht das Haus und das Grundstück. Trotz aller Not,
sie heiratete einen Siedler mit weiteren sechs Kindern, brachte sie allen
Kindern Lesen und Schreiben bei. Die große Familie zog nach São Bento, wo Leonel
Brizola die Grundschule besuchte. Als seine älteste Schwester heiratete, zog er
mit ihr nach Passo Fundo, wo er das erste Grundschuljahr beendete und als
Laufbursche arbeitete. Mit 10 Jahren kehrte er nach Carazinho zurück und
arbeitete dort als Tellerwäscher, Schuhputzer, Zeitungsjunge und Gepäckträger am
Bahnhof, dabei bemüht, seine Lese-
und Rechtschreibkenntnisse nicht zu vernachlässigen.
Im
Jahre 1933 nahm ihn ein methodistischer Pfarrer auf und sorgte für den
regelmäßigen Schulbesuch im Kolleg der Methodisten. Bei der Aufnahmeprüfung für
das Gymnasium erlangte er den ersten Platz und erhielt vom Präfekten von
Carazinho ein Empfehlungschreiben an den Direktor des “Instituto Agrícola de
Viamão” und ein Bahnticket nach Porto Alegre. Dort kam der damals 14jährige im
Februar 1936 an. Er musste seinen Lebensunterhalt als Geldwechsler und Liftboy
verdienen. Bis 1939 konnte er in der Schule wohnen. In diesem Jahr erhielt er
das Diplom als Landwirtschaftstechniker und bekam eine Arbeit in einer
Raffinerie in Gravataí. Nach seinem zwanzigsten Lebensjahr legte er eine Prüfung
als Aufsichtbeamter des Landwirtschaftsministeriums ab. Er zog es aber vor, als
Gärtner für die Präfektur von Porto Alegre zu arbeiten, weil er hier die
Ergänzungsprüfung ablegen konnte, um im Jahre 1945 die Fakultät für
Ingenieurwesen der Universität von Rio Grande do Sul zu
besuchen.
Anfänge als Politiker
Am
29.Oktober 1945, kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, endete auch durch
die Militärs die Ära Vargas. Dieser hatte am 10. November 1937 durch einen
Staatsstreich die Macht in Brasilien erlangt und den “Neuen Staat” (Estado Novo)
ausgerufen. Der Neue Staat war durch einen stark ausgeprägten Nationalismus und
Populismus, allerdings auch durch eine starke Betonung der städtischen
Arbeiterschaft und einer auf Industrialisierung gerichteten
Wirtschaftsentwicklung geprägt, die vom Staat gelenkt wurde. Regierungstreue
Gewerkschaften wurden gegründet. Staatsbetriebe dominierten. Die Pressefreiheit
wurde weitgehend eingeschränkt, die Parteien aufgelöst.
Nach der Vargas-Diktatur
begann ein Prozess der Redemokratisierung und der Reorganisation der politischen
Parteien. Leonel Brizola befand sich zu dem Zeitpunkt durch sein Studium im
universitären Milieu. Er sah sich als Studentenführer gedrängt, am politischen
Leben aktiv teilzunehmen und trat der noch im Mai 1945 von Vargas und seinen
Anhängern gegründeten “Brasilianischen Arbeiterpartei” (PTB/ Partido Trabalhista
Brasileiro) bei. Zusammen mit anderen Studenten und einigen Gewerkschaftsführern
bildet Brizola den ersten Kern von jungen Menschen der PTB in Rio Grande do Sul.
Er gründet in der PTB die Gruppe
“Arbeiterjugend” (Mocidade Trabalhista), auch als “Jugend-Flügel” bekannt, und
wird ihr erster Präsident.
Im
Januar 1947 gelang es der PTB mit der größten Fraktion in das Parlament von Rio
Grande do Sul einzuziehen. Einer der Abgeordneten mit der höchsten Stimmenzahl
war Brizola. Dort zeigte er seine Selbstständigkeit, als er gegen die Stimmen
seiner Partei gegen den Ausschluss dreier kommunistischer Abgeordneter stimmte.
1950 wurde er für weitere 4 Jahre als Abgeordneter mit der höchsten Stimmenzahl
wiedergewählt und übernahm den Fraktionsvorsitz der PTB. Zwischendurch beendete
er im Jahre 1949 sein Ingenieurstudium und heiratete im März 1950 Neusa Goulart,
Schwester des späteren Präsidenten João Goulart. Trauzeuge war Getúlio
Vargas.
Als
er sich 1951 als Kandidat für die Präfektur von Port Alegre aufstellen ließ,
verlor er die Wahl. Ein Jahr später wurde er Bauminister in der PTB-Regierung
von Rio Grande do Sul. Als Getúlio Vargas 1954 Selbstmord beging, kandidierte
Brizola für das Bundesparlament und gewann
mit mehr als 100 000 Stimmen. Im Jahre 1955 kandidierte er erneut für das
Präfektenamt von Porto Alegre und erreichte mit 65% der Stimmen ein
eindruckvolles Wahlergebnis. Geprägt wohl von den Erfahrungen seiner Kindheit
legte er schon damals einen Schwerpunkt auf die Bildung mit dem Wahlspruch “Kein
Kind ohne Schule”. Die erfolgreiche Verwaltung der Stadt Porto Alegre brachte
ihm hohes Ansehen. Daher war es keine Überraschung, als er bei der
Gouverneurswahl 1958 55% der Stimmen erhielt und in 90 der Munizipien
gewann.
Gouverneur von Rio Grande do Sul
(1959-1962)
Gleich bei seinem
Amtsantritt im Jahre 1959 betonte Brizola die Volksbildung und schuf die
«Staatliche Wirtschaftskasse» (Caixa Econômica Estadual) für die wirtschaftliche
Entwicklung und zusammen mit den Gouverneuren von Santa Catarina und Paraná
gründete er die «Regionalbank für Wirtschaftliche Entwicklung» (Banco Regional
de Desenvolvimento Econômico/ BRDE). Deren Investitionen waren auf die
Infrastruktur des Staates, auf den Bildungssektor und die Agrarreform gerichtet.
In seiner Regierungszeit errichtete Brizola 6 302 Schulen und stellte 40 000
Lehrer ein für 700 000 Schüler.
Brizola war ein Pionier bei
der Agrarreform Brasiliens. Er enteignete weite Gebiete unproduktiven Landes,
schuf das Institut für Agrarreform und händigte 14 000 landlosen Siedlern die
Besitzurkunde aus. Alle Ansiedlungen erhielten eine ausreichende Infrastruktur,
um die Familien an das Land zu binden. Es handelte sich um eine recht
erfolgreiche Initiative.
Getúlio Vargas, der
autoritäre Linkspopulist, war Brizolas Idol, als er 1945 in die Politik ging.
Auch den Stil des autoritären Vargas übernahm er in seine Ämter, inklusive
Personenkult und Zentralisierung des Entscheidungsapparates in einer Hand.
International bekannt wurde
Leonel Brizola durch die Verstaatlichung von US-Konzernen. Die
Elektrizitätsgesellschaft Rio Grandense war eine Filiale von Bond and Share,
dessen Besitz bei der American and Foreign Power Company (Amforp) lag. Der
Gouverneur verhandelte längere Zeit über größere Investitionen, um die
mangelhafte Elektrizitätsversorgung der Bevölkerung zu verbessern. Gestützt auf
die entsprechende Gesetzgebung zahlte er Bond and Share einen symbolischen
Cruzeiro und verstaatlichte die Elektrizitätsversorgung am 13 Mai 1959. Trotz
internationalem Druck, vor allem
aus Washington, blieb er bei der Verstaatlichung, die auch durch die Gerichte
bestätigt wurde.
Das
Gleiche führte er 1962 bei der Telefongesellschaft von Rio Grande do Sul durch.
Diese war eine Filiale der damals mächtigen International Telephone and
Telegraph, als ITT bekannt. Hierbei wurde der Wert der Gesellschaft geschätzt
und die Eigentümer entsprechend entschädigt. Die damalige Regierung Kennedy
protestierte heftig. Diese Verstaatlichungen brachten Brizola den Ruf ein
“agressiver Linker”, ein “Radikaler” und sogar ein “Kommunist” zu
sein.
Verfassungstreue (1961)
Als
am 25. August 1961 der kurz zuvor gewählte Präsident Jânio Quadros von seinem
Amt zurücktrat mit dem rätselhaften Argument “Geheime Kräfte” würden ihn dazu
zwingen, versuchten die drei Militärminister, die zum reaktionären Flügel
gehörten, die normale von der Verfassung vorgesehene Nachfolge durch den
Vizepräsidenten zu verhindern. Der damalige Vizepräsident war João Goulart, der
sich zu dem Zeitpunkt auf Staatsreise in China befand. Er wurde von den Militärs
als Kommunist eingestuft. Brizola bildete schnell eine Radiokampagne, “Dem Netz
der Legalität”, dem sich 104 Radiostationen in Rio Grande do Sul, Santa Catarina
und Paraná anschlossen. Hier klagte er die Militärs des versuchten
Staatsstreiches an und verteidigte die Verfassungsordnung. Er verteilte sogar
Waffen zur Verteidigung an die Bürger, die zu Tausenden dem Aufruf folgten. Das
Militärkommando in Brasilia gab Befehl an den Kommandanten des III. Heeres,
General Machado Lopes, den Gouverneurspalast Piratini in Porto Alegre mit allen
notwendigen Kräften zu stürmen und Brizola zum Schweigen zu bringen, der täglich
seine Radio-Ansprachen hielt. Selbst die Luftwaffe erhielt am 28.August 1961 den
Befehl falls notwendig, den Piratini-Palast zu bombardieren, der von der
Militärbrigade von Rio Grande do Sul und der Bevölkerung gesichert wurde. Hier
hielt Brizola seine historisch denkwürdige und für ihn sehr charakteristische
Rede, wobei Anklänge an das “Vermächtnis” von Vargas zu erkennen
sind:
“Achtung Bevölkerung von
Porto Alegre, Achtung Rio Grande do Sul. Achtung Brasilien! Achtung meine
demokratischen und unabhängigen Mitbürger! ......
Wir
befinden uns in dieser Radiostation, die beschlagnahmt wurde für den
Nachrichtendienst, um die Bevölkerung zu informieren und damit behilflich zu
sein, den Frieden und die Ordnung zu erhalten. Wir sprechen hier aus dem
Pressezentrum, umgeben von Journalisten, die sich nicht zurückziehen wollen und
um Waffen und entsprechende Ausrüstung bitten, damit jeder Gelegenheit hat, ein
Freiwilliger im Einsatz für die Legalität zu sein.
Dies ist die Situation! Die bedeutsamsten Fakten möchte ich
meinen Mitbürgern im ganzen Land, in Lateinamerika und in der ganzen Welt zu
Gehör bringen. Erstens: Ich komme direkt aus meiner Residenz, wo ich mich mit
meiner Familie befand. Soeben erhielt ich die Mitteilung , dass der geehrte
General Machado Lopes, ein Soldat, von dem ich den besten Eindruck habe, um eine
Audienz bei mir bat über eine
Verständigung. Ich habe ihm von hier aus vor meiner Ansprache mitgeteilt, dass
ich ihn mit Vergnügen empfangen werde, denn die Diskussion und die Analyse der
Probleme stellt ja ein Mittel dar, das zivilisierte Menschen nutzen, um Probleme
und Krisen zu beheben. Es kann aber sein, dass dieser Besuch keinen einfachen
Freundschaftsbesuch darstellt. Dass diese Ansprache keine Verbindung zwischen
der militärischen und der zivilen Macht darstellt zur Verteidigung der
Verfassungsordnung, des Rechts und des Friedens, wie sie in diesem Moment
gefordert ist zur Verteidigung des Volkes, derjenigen die arbeiten und
produzieren, der Studenten und Professoren, der Richter und der Bauern, der
Familien.
Alle, sogar unsere Kinder,
wünschen, dass die Militärgewalt und die Zivilgewalt sich in dieser Stunde
darüber einigen, dass wir in der Legalität leben müssen. Es kann allerdings auch
bedeuten, dass der Regierung des Staates ihre Absetzung mitgeteilt wird. Ich
möchte euch nur sagen, dass es möglich ist, dass ich keine Gelegenheit mehr
haben werde mit euch weiter zu sprechen, dass ich mich nicht mehr von diesem
Nachrichtendienst aus an euch richten kann, um die Bevölkerung aufzuklären. Es
ist natürlich klar, dass im Fall eines Ultimatums auch ernsthafte Konsequenzen
eintreten. Denn wir werden uns keinem Staatsstreich unterwerfen, keinem
willkürlichen Beschluss. Wir haben nicht vor, uns zu unterwerfen. Mögen sie uns
zerquetschen! Uns zerstören! Uns niedermetzeln in diesem Palast. Niedergemacht
wird Brasilien durch die Aufnötigung einer Diktatur gegen den Willen des Volkes.
Diese Radiostation wird zum Schweigen gebracht, wie die anderen Sender. Doch
sicher ist, dass sie nicht ohne Kugeln zum Schweigen gebracht werden. Sowohl
hier als auch an den anderen Sendestationen sind wir bewacht von starken
Kontingenten der Militärbrigade...
Achtung, meine Mitbürger!
Hier die Mitteilung: Gestern Abend erklärte über den “Reporter Esso” der
Kriegsminister Marschall Odílio Denys,-
ein Soldat, der mit 70 am Ende seiner Karriere, schwerste, unsinnige
Entscheidungen fällt,- dass er mit
der Amtsübernahme von Herrn João Goulart nicht einverstanden sei. Dass er nicht
einverstanden sei, dass der verfassungsmäßige Präsident seine legalen Funktionen
ausübe! Denn, so erklärt er in einer kindischen und unannehmbaren Argumentation,
das würde eine Option zwischen Kommunismus oder dem Nichts bedeuten. Das ist
kindisch, meine Landsleute! Das ist kindisch, meine Mitbürger! Wir stehen gar nicht vor diesem Dilemma.
Diese oder jene Doktrinen mögen hingehen, wo sie wollen. Wir stehen nicht vor
einer Unterwerfung unter die Sowjetunion oder die Vereinigten Staaten. Dazu habe
ich eine klare Position. Allerdings habe ich das, was vielen überdrehten
Antikommunisten fehlt, nämlich den Mut zu sagen, dass die Vereinigten Staaten
von Amerika, um ihre Monopole und Trusts zu schützen, diese leidende und
verelendete Nation ausbeuten und plündern. Ich bemühe mich um Unabhängigkeit.
Ich denke weder in Richtung der Russen noch der Amerikaner. Ich denke an
Brasilien und die Republik. Wir wollen ein starkes und unabhängiges Brasilien.
Kein Brasilien, das Sklave der Militaristen, der nordamerikanischen Trusts und
Monopole ist. Wir haben nichts mit den Russen. Aber wir haben auch nichts mit
den Amerikanern, die plündern und unser Vaterland in der Armut, dem
Analphabetismus und der Misere hält...
Ich
wurde darüber informiert, dass alle Flughäfen Brasiliens, auf denen größere
internationale Flugzeuge landen, von Soldaten bewacht werden mit dem Befehl,
Herrn João Goulart bei seiner Ankunft zu verhaften. Vor kurzem habe ich mit João
Goulart in Paris gesprochen und ihm erklärt, dass alle unsere gestrigen
Gespräche abgehört worden seien. Dafür habe ich Beweise... Heute sagte ich João
Goulart: «Du musst nach Deiner Überzeugung entscheiden. Du solltest nach
Brasília fliegen, so ist mein Rat, oder zu irgendeinem Punkt Lateinamerikas. Die
Entscheidung liegt bei Dir! Du solltest direkt nach Brasília kommen, das Risiko
eingehen und dafür bezahlen, um klar zu sehen. Nimm eines Deiner Kinder in den
Arm. Steige aus ohne Revolver im Gürtel, wie ein zivilisierter Mensch. Komm in
ein kultiviertes und politisiertes Land, wie Brasilien es ist und nicht in eine Mini-Republik, wo
die Caudillos, die Oligarchien herrschen, die sich allmächtig glauben. Flieg
nach Uruguay, diese Festung der Freiheit, nahe bei uns. Von hier aus erarbeite
Deine Pläne, wie Du sie am angemessensten findest.»”
Nachdem Brizola die Soldaten
des III.Heeres und ihren Kommandanten General Machado Lopes daran erinnert, dass
sie Hüter der Ordnung und des Vaterlandes seien, bezeichnet er nochmals die
Entscheidung des Kriegsministers Odilio Denys als Irrsinn. Er verweist darauf,
dass auch der Erzbischof von Porto Alegre D.Vicente Scherer mit allen Kardinälen
Brasiliens für den Frieden und die legale Ordnung sind. Er zitiert schließlich
aus abgehörten Meldungen der Militärs. So soll General Orlando Geisel auf
Anordnung von Marschall Odilio Denys folgende Befehle erteilt haben: Der
Kommandant des III. Heeres müsse die Aktion verhindern, die von Gouverneur
Brizola ausgehe. «Lassen sie alle Truppen von Rio Grande do Sul gegen Porto
Alegre vorrücken, falls sie es für angemessen halten.» Die Luftwaffe solle eine
Bombardierung durchführen, wenn es notwendig werden sollte. Am Schluss seiner
Rede ruft Brizola seine Zuhörer zum Protest auf:
“Volk von Porto Alegre,
meine Freunde von Rio Grande do Sul. Ich wünsche keinen zu opfern, aber kommen
sie vor den Eingang dieses Gouverneurssitzes, in einer Demonstration des
Protestes gegen diesen Irrsinn und Unverstand. Kommt! Und wenn diese das
Gemetzel begehen wollen, könnt ihr euch zurückziehen, aber ich werde mich nicht
zurückziehen und werde bis zum Ende bleiben. Ich mag zerschmettert werden. Ich
mag zerstört werden. Ich mag zu Tode kommen, ich, meine Frau und viele meiner
zivilen und militärischen Freunde von Rio Grande do Sul. Das macht nichts. Es
bleibt unser Protest und wir waschen die Ehre dieser Nation rein. Wir werden
hier Widerstand leisten bis zum Ende...”
Nach dieser Rede empfing
Brizola den General Machado Lopes. Dieser teilte ihm mit, dass alle Generäle des
III.Heeres sich entschlossen haben, für die Verfassungsordnung zu kämpfen und
keine Befehle aus Brasilia annehmen werden. Diese Entscheidung wurde von Brizola
unmittelbar der auf 100000 Menschen angewachsenen Menge mitgeteilt, die sich vor
dem Paritini-Palast versammelt hatte. Mit der Unterstützung des III.Heeres
richtete sich das Land wieder auf und João Goulart konnte in Brasilien über
Montevideo am 1. September 1961 einreisen und in Porto Alegre heimatlichen Boden
betreten.
Trotz der Gefahr einer
Auseinandersetzung mit dem II. Heer von São Paulo und eines Angriffs durch die
Kriegsmarine bereitete sich Brizola darauf vor - mit Unterstützung des III.
Heeres - mit Truppen auf Brasília vorzurücken, um die Amtsübernahme des
Präsidenten zu sichern. Der bisherige Vizepräsident Goulart jedoch versuchte
einen Bürgerkrieg zu verhindern und nahm den ausgehandelten Kompromiss eines
Parlamentarismus anstelle des bisherigen Präsidialsystems in Kauf. So konnte er
am 7.September 1961 das Präsidentenamt übernehmen, musste allerdings einen
Ministerpäsidenten als Regierungschef einsetzen.
Kongressabgeordneter (1962-1964)
Im
Oktober 1962 wird Brizola zum Abgeordneten des Kongresses in Brasilia gewählt.
Er wird mit 269000 Stimmen aus dem damaligen Staat Guanabara zum meistgewählten
Abgeordneten überhaupt. Im Kongress führt er den links-nationalen Flügel an.
Dabei bekämpft er immer wieder den nordamerikanischen Imperialismus und
verteidigt die Kontrolle ausländischen Kapitals, sowie eine vollständige
Überprüfung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Durch die Gründung einer
“Front zur Volksmobilisierung” (Frente de Mobilização Popular) versucht er,
Basisreformen durchzusetzen. Zu dieser Mobilisierung gehören die Nationale
Parlamentarische Front, die Nationale Studentenunion (União Nacional dos
Estudantes/ UNE), die Gewerkschaftsbewegung CGT (Central Geral dos
Trabalhadores), sowie die bekanntesten linken Politiker, wie der
Kommunistenführer Prestes, der damalige Gouverneur von Pernambuco Miguel Arraes
(PST) und der Führer der Bauernligen Francisco Julião.
Da
die Regierung Goularts zögert, übt Brizola einen starken Druck auf die Regierung
aus, um so das Anliegen der Reformen, vor allem der Agrarreform, zu
beschleunigen. Er versucht überall 11er Gruppen nach dem Vorbild kommunistischer
Zellen zu bilden, den von den Militärs gefürchteten und auch von Vertretern der
katholischen Kirche mit Misstrauen beobachteten “Grupos dos Onze”.
Das Versagen der Regierung in der
Wirtschaftspolitik, die Unzufriedenheit der Großgrundbesitzer und ihre Angst vor
einer substantiellen Agrarreform, sowie die Rebellion der Unteroffiziere im
Jahre 1963 lassen erneut die Gefahr eines Putsches von Rechts aufkommen. Ohne
große Unterstützung durch die Bevölkerung entschließt sich Goulart schließlich
im Jahre 1964 Basisreformen durchzuführen. So unterzeichnet er spektakulär in
Rio de Janeiro die Dekrete zur Agrarreform und zur Aufhebung der Kontrakte für
die Erdölraffinerien.
Militärputsch und Exil
(1964-1979)
Doch die Entscheidungen
kommen zu spät. Die Militärs und rechte Politiker hatten in der Presse und in
der katholischen Kirche Sympathisanten gefunden. Am 31. März 1964 geben der
Gouverneur von Minas Gerais Magalhães Pinto und General Mourão Filho das Zeichen
für einen Militärputsch, der zur am längsten andauernden Militärdiktatur
Lateinamerikas führen sollte. Brizola versucht noch einmal in Rio Grande do Sul
den Widerstand zu organisieren, aber die Umstände hatten sich geändert. João
Goulart entscheidet sich, auf Widerstand zu verzichten. Brizola verlässt nach
einem kurzen Aufenthalt im Untergrund im Mai Brasilien, denn er stand schon auf
einer Liste von Personen, die, ihrer Mandate beraubt, ihre Rechte verlieren und
umgehend von den Militärs verhaftet werden sollten.
In
Abwesenheit werden von den Militärs gegen Brizola acht Prozesse inszeniert
mit formaljuristisch hohem Aufwand.
In den Prozessen des Jahres 1969 wird er am 8.Mai vom Militärgericht des Heeres
wegen Bildung der 11er-Gruppen zu zwei Jahren Haft verurteilt, am 20. August von
einem anderen Militärgericht zu drei Jahren Haft wegen subversiver Tätigkeit
beim Radio Mayrink Veiga. Im Juni
1970 wird er wiederum durch das Militärgericht des Heeres zu 10 Jahren Haft
verurteilt, weil er in Barra Mansa und Volta Redonda die kommunistische Partei
reorganisiert haben soll. Selbst der Ankläger Osiris Josephson bat um Freispruch
für den abwesenden Angeklagten wegen “der Unsicherheit der produzierten
Beweise”. Im gleichen Prozess wurde auch Luiz Carlos Prestes zu 10 Jahren Haft
verurteilt. In weiteren Prozessen wurde Brizola freigesprochen, bzw. der Prozess
archiviert. So der Prozess bei einem Militärgericht der Luftwaffe im Jahre 1972,
in dem auch die Ex-Präsidenten João Goulart, Jânio Quadros und selbst Juscelino
Kubitschek, der Erbauer der Hauptstadt Brasília, als Kommunisten angeklagt
waren.
Während João Goulart auch im
Exil eine vermittelnde, diplomatische Rolle einnahm, auf den Verschleiß der
Militärdiktatur hoffte, versuchte Brizola zunächst die zahlreichen
brasilianischen Exilanten in Montevideo zu sammeln. Seine Anhänger mieteten ein
Kino an, um sich zu organisieren, vor allem aber um die bedürftigsten Exilanten
zu versorgen. Bei dieser Gelegenheit soll Brizola nach Aussage von Mauro
Santayana, einem der damaligen
Exilanten, eine der besten Solidaritätsreden gehalten haben. Hier im Exil
gäbe es keine Chefs oder Untergebene. Hier seien alle gleich. Es bliebe die
einzige Möglichkeit, die des Zusammenhalts über ideologische Unterschiede
hinweg, erklärte er. “Wenn keiner von uns mehr ein zweites Hemd haben sollte,
dann müssen wir das eine Hemd zerreissen und die eine Hälfte dem geben, der mit nackter Brust da-
steht.” Die Exilanten sahen in ihm einen natürlichen Führer. Allerdings teilten
nicht alle seine anfängliche Meinung, dass eine militärische Aktion gegen die
Militärs Erfolg haben könnte.
Die
von Elio Gaspari in einer Fußnote erwähnte
revolutionäre MNR von Brizola in Imperatriz im Jahre 1965 stützt sich auf
eine Äusserung von Flavio Tavares. Sonst bemüht sich Elio Gaspari in seinem
dreibändigen Werk über die Militärdiktatur, das weitgehend aus der Sicht der
Generäle geschrieben ist, Kontakte Brizolas zu Kuba nachzuweisen, was bei der
Flut von Exilanten, die auch in Kuba gelandet sind, normal war. Gaspari erklärt
allerdings auch: “Der Ex-Gouverneur war ehrlich als er erläuterte, dass er in
der kubanischen Guerrilha keine angemessene Taktik für die brasilianische
Erhebung gesehen habe. Er habe schon in der ersten Hälfte des Jahres 1965 seine
Meinung geändert.” In einem Interview der 80er Jahre ergänzte Brizola, dass er
in der damaligen verzweifelten Situation selbst eine Allianz mit jemandem mit
Bocksbeinen akzeptiert hätte. Trotz mancher theoretischer Diskussionen in
Montevideo mit dem Romancier Antônio Callado und dem Schriftsteller Otto Maria
Carpeaux über einen Einsatz in Brasilien, kam es nicht zu einem militärischen
Vorgehen. Trotzdem behauptet Gaspari, dass Brizola im Februar 1966 drei
Guerrilha-Gruppen auf der Landkarte gehabt hätte, eine davon in Mato Grosso.
Anderseits habe Brizola den abenteuerlichen militärischenEinsatz des Sargenten
Alberi Vieira dos Santos im Jahre 1965 in Brasilien in keiner Weise
unterstützt.
Gaspari muss jedenfalls
zugeben, dass auch aus seiner Sicht “von 1965 bis zu Beginn des zweiten
Semesters des Jahres 1966 der herausragendste Chef des linken Radikalismus
Brizola war, eine Stellung, die der größte Teil der Exilierten nach und nach
durch die Banalität des Ausgeschlossenseins verlor.” Die besondere Stellung
Brizolas wurde von dem damaligen Chefideologen des Militärs Golbery erkannt, so
dass der aus seiner Sicht an Castello schrieb: “Es ist evident, dass der
Brizolismus, der internationale Kommunismus und der Peronismus Hand in Hand
gehen.”
Im
Exil in Uruguay beginnt Brizola langsam, seine internationalen Kontakte auf- und
auszubauen. Die Sozialdemokraten Europas beeindrucken ihn mit ihrer stets
unbeugsamen, positiven Haltung zur Demokratie. Die Sozialistische Internationale
scheint ihn beeinflusst zu haben und eine Handlungsebene zu bieten. Der Aufstand
der 68erGeneration hat ihn wohl weniger berührt, obwohl er ein Gespür bekam für
die “neue Linke” der heranwachsenden Generation. Die Diskussion der 70er Jahre um die Menschenrechte verfolgt er
intensiv.
Das
Militärregime Brasiliens verfolgt Brizolas Leben genau und erreicht durch ihren
damaligen Botschafter Pio Corrêa die Verdrängung aus Montevideo in den Badeort
Atlântida.
Das
anhaltende Prestige Brizolas in Rio Grande do Sul machte dem Militärregime zu
schaffen, so dass der damals bekannteste Leitartikler Carlos Castello Branco
1977 schrieb: “Es gab eine Wallfahrt von Besuchern zum Ex-Gouverneur von Rio
Grande do Sul und die Karawane verstärkte sich zu Wahlzeiten, wenn ein Besuch
bei Brizola Stimmen einbringen konnte in den Schwerpunktorten der PTB. Bundes-
und Landtagsabgeordnete, Gemeinderäte verloren ihr Mandat durch die Unklugheit,
dass sie ihre Treue zu dem in Ungnade gefallenen politischen Chef öffentlich bekannten.”
Schließlich im Jahre 1977
erreichen die brasilianischen Militärs die Ausweisung Brizolas aus Uruguay. Sie
rechnen damit, dass er nach Caracas oder noch besser in das weit entfernte
Mexiko abgeschoben würde. Eventuell konnten sie sich ein Exil in Europa, vor
allem Portugal vorstellen.
Dass er Aufnahme findet in den
Vereinigten Staaten, war für sie undenkbar, wo er doch immer wieder die
Vereinigten Staaten angegriffen hatte. Die damalige Regierung Carter nahm die
Menschenrechtsfrage sehr ernst, so dass Brizola keine Schwierigkeiten bei der
Erteilung eines Einreisevisums bekam. Er war ja als Politiker international
bekannt geworden. Auf einmal erschien Brizola für die Militärs auf internationaler
Ebene, konnte weltweit reisen und sich mit anderen Exilbrasilianern ungestört
treffen.
Seine Bemühungen, die Redemokratisierung
Brasiliens vorzubereiten, mussten allerdings lange auf erste Erfolge warten.
Zwar gab es in verschiedenen Ländern unterschiedliche Komitees für eine
allgemeine Amnestie in Brasilien, aber erst im Jahre 1979, also 15 Jahre später
- als man in Brasilien von einem langsamen Ausklingen der Diktatur sprach und
eine Amnestie anvisierte- konnte Brizola mit Hilfe von Mário Soares, dem
Sozialistenführer Portugals, in Lissabon ein Treffen von Arbeiterführern
organisieren. Dort trafen sich verschiedene Oppositionelle, die im Exil lebten.
Dort erarbeitete man den sogenannten «Brief von Lissabon», ein programmatisches
Dokument, um die PTB in Brasilien wieder aufleben zu lassen und zu
reorganisieren.
Das Treffen der Verteidiger der
Arbeiterschaft, “trabalhistas” genannt, aus Brasilien mit den Arbeiterführern im
Exil begann schon am 13. Juni 1979 in Lissabon. Mario Soares, der
Ministerpräsident Portugals, ließ es sich nicht nehmen die Teilnehmer im
eindrucksvollen Sitz der Sozialistischen Partei am Largo Rato zu begrüßen. Alle
Teilnehmer kamen entweder aus dem Exil oder waren in Brasilien ihrer Ämter und
politischen Rechte beraubt worden. Auch die an Entführungen und Banküberfällen
Beteiligten, die Brizola «die Pistolen-Gruppe» nannte, waren anwesend. Die
Militärs zögerten noch mit ihrer Zustimmung zu einer vollständigen Amnestie.
Brizola versuchte eine gemäßigte, vermittelnde Haltung einzunehmen bei seinen
Erklärungen, um die Entscheidung der Militärs nicht negativ zu beeinflussen.
Allerdings war die Presse daran interessiert, möglichst viele Einzelheiten zu
bringen. Teilweise gaben die Redaktionen in Brasilien den Beiträgen ihrer
Korrespondenten provokative Überschriften. Dadurch entstanden wiederum
erhebliche Missverständnisse und Empfindlichkeiten.
In
dem von mehr als 100 Teilnehmern am 17..Juli 1979 unterzeichneten «Schreiben von
Lissabon» heisst es: “ Wir Brasilaner, die wir für eine arbeitergemäße Lösung
optiert haben, erkennen die dringliche Aufgabe einer Befreiung unseres Volkes
und dazu treffen wir uns hier in Lissabon. Dass wir dies ausserhalb des Landes
gemacht haben, hängt damit zusammen, dass das willkürlich und unmenschlich
verhängte Exil dieses Treffen am geeignetesten Ort verhindert hat: im brasilianische Vaterland. Die
Aufgabe, mit unserem Volk eine wahrhaft nationale, volksnahe und demokratische
Partei zu gründen, erscheint immer drängender... Die geschichtliche Erfahrung
lehrt uns einerseits, dass keine Partei an die Regierung kommen und sich dort
halten kann ohne die Unterstützung durch das organisierte Volk, anderseits kann
keine Volksbewegung ihre Erwartungen verwirklichen ohne Parteien, die diese durch die Macht des Staates realisieren.
Die fehlende organisierte Unterstützung durch das Volk kann zu dramatischen
Situationen führen, wie jene, die Präsident Getúlio Vargas dazu führte, sich in
die eigene Brust zu schießen. Organisierte Parteien und ein organisiertes Volk
bilden also die grundlegenden Bedingungen für den Aufbau einer demokratischen
Gesellschaft...”
Nachdem die Unterzeichner
ein Mehrparteiensystem gefordert haben, werden ebenso freie Gewerkschaften, die
vollständige Freiheit intellektuellen Schaffens, Freiheit des Ausdrucks und der
Presse eingefordert, der Widerruf aller Formen von Zensur. Es wird nochmals auf
die Illegalität des Militärputsches von 1964 eingegangen, der die Reichen noch
reicher gemacht hat und eine Schuldenlast von 50 Mrd. US$ hinterlässt. Als
Aufgabe ihrer Partei sehen die Beteiligten vier Bereiche:
-
Die Rettung von Millionen von verlassen und hungrigen Kindern und ihre
Einschulung, damit nicht jährlich eine halbe Million Analphabeten
entstehen;
-
Gerechtigkeit für die Schwarzen und Indianer, die unter rassischer und
ethnischer Diskriminierung leiden;
-
Anerkennung der Rechte brasilianischer Frauen, die niemals anerkannt und gerecht
behandelt wurden, doppelt ausgebeutet durch ein zweifaches
Tagewerk;
-
Verteilungsgerechtigkeit für alle Regionen Brasiliens, vor allem den Norden und
Nordosten.
Mit dem nochmaligen Hinweis auf die
Inspiration durch das «Vermächtnis» von Getúlio Vargas versprechen die
Teilnehmer des Treffens von Lissabon vertrauensvoll: “Von diesem Moment an
werden wir alle unsere Kräfte auf die Vorbereitung und Organisation des
Nationalkongresses der Organisation der neuen PTB richten, der am 19. April 1980
in Rio de Janeiro stattfinden soll.”
Amnestie, Rückkehr und Aufbau der Partei
(1979-1982)
Obwohl schon im Jahre 1972
die damalige sogenannte Oppositionspartei MDB das Anliegen der Amnestie in ihr
Programm aufnahm, gelang es erst drei Jahre später in Brasilien eine
Amnestiebewegung zu gründen, nämlich in São Paulo die “Frauenbewegung für die
Amnestie” (Movimento Feminino pela Anistia). Im Jahre 1978 entstand dann in Rio
de Janeiro das “Brasilianische Komitee für die Amnestie” (Comitê Brasileiro pela
Anistia). Senator Teotônio Vilela untersuchte als Vorsitzender einer gemischten
Kommission die Situation der Politischen Häftlinge. Schließlich am 28. August
1979 wurde unter der Regierung Figueiredo das Amnestiegesetz erlassen, das allen
Exilierten die Rückkehr in ihre Heimat erlaubte, allerdings auch alle Militärs
vor Strafverfolgung schützte.
Brizola kehrte schon am 6.
September 1979 nach Brasilien zurück und ließ sich in Rio de Janeiro nieder. Er
musste zunächst intensiv um den Aufbau einer Arbeiterpartei kämpfen, da ihm 1980
eine politische Gruppe um Ivete Vargas die Bezeichnung seiner Partei, der PTB,
beim Obersten Wahlgericht streitig machte. So entschied er sich eine abgeänderte
Form zu benutzen und seine Partei “Demokratische Arbeiterpartei” (Partido
Democrático Trabalhista/ PDT) zu nennen. Er wurde ihr erster Präsident. Auch die
neue Partei lässt sich in ihrem Programm
vom Inhalt des von Getúlio Vargas hinterlassenenVermächtnisses, der
sogenannten “Carta Testamento” inspirieren. Demokratie und Teilhabe der Frauen
an allen politischen Entscheidungen,
Nationalismus und Sozialismus sind weitere Schlüsselwörter für die
Partei.
Noch einmal mehr haben sich
die Kräfte und Interessen gegen das Volk zusammengetan und sich erneut über
meiner Person entladen. Sie klagen mich nicht an, sie beleidigen mich; sie
bekämpfen mich nicht, sie verleumden mich und geben mir nicht das Recht zur
Verteidigung. Sie müssen meine Stimme ersticken und mein Handeln verhindern,
damit ich nicht weiterhin fortfahre das Volk, insbesondere die Armen zu
verteidigen, so wie ich sie immer verteidigt habe.
Ich folge meiner Bestimmung,
wie sie mir auferlegt ist. Nach Jahrzehnten der Beherrschung und Ausplünderung durch
internationale Wirtschafts- und Finanzgruppen machte ich mich zum Anführer einer
Revolution und siegte. Ich begann die Befreiungsarbeit und richtete eine Ordnung
sozialer Freiheit ein. Ich kehrte auf den Händen des Volkes in die Regierung
zurück. Der unterschwelligen Kampagne der internationalen Gruppen gesellten sich
die nationalen Gruppen, die aufgebracht sind gegen die Ordnung der
Arbeitsgarantie. Das Gesetz gegen außerordentliche Gewinne wurde im Kongress
aufgehalten. Gegen die Bestätigung des Mindestlohnes durch die Justiz entlud
sich der ganz Hass. Ich wollte eine nationale Freiheit schaffen durch die
Inwertsetzung unserer Reichtümer durch die Petrobras. Aber kaum beginnt sie zu
funktionieren, steigert sich die Welle der Agitation. Die Electrobras wurde bis
zur Verzweiflung behindert. Sie wollen nicht, dass der Arbeiter frei
wird.
Sie wollen nicht, dass das
Volk unabhängig wird. Ich habe die Regierung in der Zeit der Inflationsspirale
übernommen, die die Werte der Arbeit zerstörte. Die Gewinne der ausländischen
Unternehmen erreichten Gewinne von bis zu 500% pro Jahr. Bei der Wertangabe
dessen, was wir importieren mussten, gab es festgestellte Betrügereien im Wert
von mehr als 100 Millionen Dollar pro Jahr. Es kam die Kaffe-Krise. Unser
Hauptprodukt gewann an Wert.Wir versuchten den Preis zu verteidigen und die
Antwort war ein gewalttätiger Druck auf unsere Wirtschaft, so dass wir nachgeben
mussten.
Ich habe Woche um Woche
gekämpft, Tag für Tag und Stunde um Stunde, habe widerstanden einem dauernden,
unablässigem Druck. Ich ertrug alles schweigend, vergaß alles, verzichtete auf
mich selbst, um das Volk zu verteidigen, das jetzt ungeschützt bleibt. Ich kann
euch nichts mehr geben, es sei denn mein Blut. Wenn die Adlervögel von jemandem
das Blut wollen, das brasilianischen Volk weiterhin aussaugen wollen, ich biete
mein Leben als Opfer dar.
Ich wähle dieses Mittel, um immer bei
euch zu sein. Wenn man euch demütigt, werdet ihr meine leidende Seele an eurer
Seite spüren. Wenn der Hunger an eure Tür klopft, werdet ihr in eurer Brust die
Kraft spüren, um für euch und eure Kinder zu kämpfen.
Wenn sie euch verunglimpfen,
werdet ihr in euren Gedanken die Kraft zur Reaktion fühlen. Mein Opfer wird euch
zusammen halten und mein Name wird eure Fahne im Kampf sein. Jeder meiner
Blutstropfen wird eine unsterbliche Flamme in eurem Gewissen sein und den
heiligen Eifer zum Widerstand erhalten.
Dem Hass antworte ich mit
Verzeihung. Und denjenigen, die meinen mich vernichtet zu haben, antworte ich
mit meinem Sieg. Ich war Sklave des Volkes. Heute befreie ich mich für das ewige
Leben. Aber dieses Volk, dessen Sklave ich war, wird niemals mehr jemandes
Sklave sein. Mein Opfer wird für immer in dessen Seele sein und mein Blut wird
das Pfand seiner Erlösung.
Ich kämpfte gegen die
Ausplünderung Brasiliens. Ich kämpfte gegen die Ausplünderung des Volkes. Ich
habe mit offener Brust gekämpft. Der Hass, die Niedertracht, die Verleumdung
haben meinen Mut nicht besiegt. Ich habe euch mein Leben gegeben. Jetzt opfere
ich euch meinen Tod. Ich fürchte nichts. Ernst mache ich den ersten Schritt auf
meinem Weg in die Ewigkeit und trete aus dem Leben, um in die Geschichte
einzutreten.
Rio de Janeiro, 23/08/54 -
Getúlio Vargas
Gouverneur von Rio de Janeiro (1983/87 und
1990/1994)
Bei
der ersten freien Gouverneurswahl im Jahre 1982, in der eine Vielzahl neu
gegründeter Parteien antraten, gelang es Brizola im ersten Wahlgang das Amt des
Gouverneurs des Staates Rio de Janeiro zu erlangen. Sein Vizegouverneur wurde
der international bekannte Anthropologe Darcy Ribeiro.
Mit
der Wahl Brizolas zum Gouverneur von Rio de Janeiro tritt die Partei aktiv in
das politische Leben Brasiliens ein.
In den Kommunalwahlen von 1985 erobert die PDT mit Saturnino Braga die
Präfektur von Rio de Janeiro und mit Alceu Collares die von Porto Alegre. Das
bewies wieder die charismatische Führungsrolle Brizolas. Im gleichen Jahr
unterstützte die PDT die Präsidentschaftskandidatur von Tancredo Neves,
allerdings nur für eine Amtszeit von zwei Jahren. In den Kommunalwahlen von 1988
siegte die PDT in São Luís (Jackson Kepler Lago), Curitba (Jaime Lerner) und
Natal (Wilma Maia).
Das
Markenzeichen Brizolas aus diesen Jahren als Gouverneur von Rio de Janeiro trägt
das Kürzel CIEPs. Das steht für ”Integrierte Zentren der Volkserziehung”
(Centros Integrados de Educação Popular),
ein Schultypus, mit dem er Erziehung und Bildung zu fördern suchte. Eine
Art von Ganztagsschule, in der die Schüler
der Armenviertel Rio de Janeiros das Zusammenleben erlernen sollten,
regelmäßigen Unterricht bekamen und gesunde und ausreichende Mahlzeiten
erhielten. Die mehr als 500
Gebäude, immer nach dem gleichen Muster nach den Entwürfen Oscar Niemeyers in
Beton gegossen, stehen bis heute - nur dass der Volksmund diesen Schultyp nicht
mehr Ciep nennt, sondern ”Brizolão”, der “Große Brizola”. Darcy Ribeiro fand hier die
Unterstützung, um seine pädagogischen Ideen und die eines Anísio Texeira in die
Tat umzusetzen. Obwohl die Brizola
nachfolgenden Gouverneure diese Modellschulen vernachlässigten, so
Moreira Franca von der PMDB und Marcelo Alencar von der PSDB, versuchte Brizola mit allen Mittel in
seiner zweiten Regierungszeit dieses System auszubauen. Im Jahre 1993 setzte er
54,91% des Staatshaltes für diese
Schulen ein. Von den 506 Gebäuden wurden 97 an die Stadt Rio de Janeiro
übergeben, die darin konventionelle Schulen unterhält, 343 funktionierten im
März 1994 weiterhin als Ganzta gsschulen
für die ersten bis fünften Klassen mit 205 000 Tagesschülern und 137 000
Abendschülern. Die anderen 66 Gebäude beherbergten die 6. bis 8.Klassen im
Hauptschulbereich und die drei Klassen der Oberstufe mit insgesamt 59 000
Schülern. Eine externe Evaluierung
zeigte, dass im Gegensatz zum normalen brasilianischen Schulbetrieb die
Erfolgsquote bei dem dreijährigen System bei 88%, bei dem 5jährigen System bei
74% lag. Hinzu kam zu diesem Zeitpunkt der Fernunterricht, bei dem über den
Fernsehkanal TV Manchete täglich von 9 bis 10 Uhr für ganz Brasilien ein
Schulfernsehprogramm ausgestrahlt wurde.
Darcy Ribeira war der Überzeugung, dass vor allem die Aus-
und Weiterbildung von Lehrkräften, sowie die Erarbeitung didaktischen Materials
in Buch- und Video-Kassetten-Form der wichtigste und dauerhafteste Beitrag dieser
Bildungsinitiative der Regierung Brizola gewesen sind. Mehr als 10 000
Lehrkräfte wurden durch dieses System erreicht.
Brizola schien sich trotz
seiner Gegenkandidatur mit der Wahl Collors zum Präsidenten abgefunden zu haben,
so dass er ihm seinen Plan von 5 000 Gesamtschulen nach dem Modell von Rio de
Janeiro für ganz Brasilien unterbreitete. Collor war begeistert und erklärte
diesen Plan zum großen Projekt seiner Regierung.
In
dieser seiner zweiten Amtszeit als Gouverneur ab dem Jahr 1990, wo er mit 60%
Stimmenanteil gewann, setzte er sich ein Denkmal, das die Brasilianer besonders
lieben: Der weltberühmte Architekt und bekennende Kommunist Oscar Niemeyer baute
unter Brizola das ”Sambodrom”, die Paradestraße für den Karneval. Jetzt will
Oscar Niemeyer eine Gedenkstätte für ihn im Zentrum Rio de Janeiros entwerfen,
das “Memorial Leonel Brizola”.
In der Opposition (1998-2004)
Der
Versuch Brizolas, im Jahre 1989 die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, misslang.
Schon bei den Meinungsumfragen im Juni 1989 erlangt er nur einen Stimmenanteil
von 11% gegenüber 43% von Collor. Damals erreichte Lula 4% der Stimmen. Die
folgenden Fernsehdiskussionen fanden - durch Intervention des Medienzaren
Roberto Marinho der TVGlobo - nur zwischen Collor und Lula statt.
Zum
Ende seiner Amtszeit als Gouverneur startete er einen zweiten Versuch für die
Präsidentschaft im Jahre 1994, der ebenfalls misslang.
Zuletzt trat er 1998 als Kandidat für die
Vizepräsidentschaft zusammen mit dem derzeit amtierenden Präsidenten Lula da
Silva an. Nach der damals verlorenen Wahl verfeindeten sich beide Politiker.
Obwohl er eine der zentralen Figuren der brasilianischen Politik war, ging ein
Lebenstraum nicht in Erfüllung, zweimal scheiterte er als
Präsidentschaftskandidat.
Zuletzt ließ er,
mittlerweile politisch ohne großen Einfluss, nur noch als Enttäuschter von sich
hören - das aber mit der spitzzüngigen Schärfe, die ihn immer ausgezeichnet hat.
In Anzeigen wetterte er regelmäßig gegen die Mitte-links-Regierung seines
ehemaligen Bundesgenossen, Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der in seinen
Augen die gemeinsamen Ideale verraten hat.
Doch bis wenige Tage vor
seinem Tod verhandelte der 82jährige
noch mit der Gouverneurin von Rio de Janeiro, Rosinha Matheus (PMDB) und
dem Minister für Öffentliche Sicherheit, Anthony Garotinho, über die Möglichkeit
einer eigenen Kandidatur für das Präfektenamt von Rio de Janeiro. Dieser Versuch
einer Allianz zwischen PMDB und PDT wurde auch einen Tag nach Brizolas Tod von Garotinho bestätigt. “Er war
begeistert. Seine Kandidatur hätte den Wahlkampf Rios nationalisiert,” erklärte
Garotinho.
Der
”bärtige Frosch”, wie Brizola Lula einmal genannt hat, ordnete trotz aller
Differenzen drei Tage Staatstrauer an, als Brizola am 21.Juni in Rio de Janeiro
starb: ”Selbst in den Zeiten der Meinungsverschiedenheiten” habe er stets
”tiefen Respekt und tiefe Bewunderung” für die politische Geschichte seines
wortgewaltigsten Kritikers auf der Linken gehegt, sagte
Lula.
Die
Anhänger Brizolas empfingen Lula bei seinem kurzen Kondolenzbesuch in Rio de
Janeiro mit Agressivität. An der
Beisetzung Leonel Brizolas in São Borja, in der Nähe seines Idols Getúlio
Vargas, nahmen mehr als 25 000 Trauergäste teil, vor allem aber seine treuesten
Gefolgsleute.
Die
schon im Dezember 1964 von General Golbery als Brizolismus bezeichnete Bewegung
um Brizola und seine Anhänger
bedarf einer näheren Betrachtung, da damit die Auswirkungen und das
Weiterwirken der Ideenwelt Brizolas zu bedenken sind. Diesem Thema widmet sich
in einer ausführlichen Studie João Trajano Sento-Sé unter dem Titel
“Brizolismus. Ästhetisierung der Politik und Charisma.”
Der
Autor, selbst ein Anhänger Brizolas, ist um eine wissenschaftliche
Auseinandersetzung um den Brizolismus bemüht. Gleich eingangs unterscheidet er
zwischen dem “utopischen Brizolismus” und dem “wissenschaftlichen Brizolismus”.
Auf den ersten Blick erscheint Brizola als ein Held der Zivilisation, der
Charisma, Mut und Eindeutigkeit des Handelns besitzt. Sicher kann er als ein
großer Führer der Massen und als ein authentischer Nationalist bezeichnet
werden.
Allerdings schließt die
Analyse auch die Angriffe und Vorwürfe der Gegner Brizolas ein: Er sei ein
Populist, eine Demagoge und hielte nicht sehr viel von der repräsentativen
Demokratie. Die Militärs hatten ihn ja immer als ihren Angstgegner gesehen und
ihn deshalb als Caudilho, Subversiven, Verführer der Arbeiter-Massen und als
Kommunisten bezeichnet.
Unter dem Gesichtpunkt eines
Führers, der in der Politik notwendig sei, so der Autor, stände die Gestalt
Brizolas zwischen dem Mythos eines subversiven Zerstörers der Ordnung und dem Vollbringer des Vermächtnisses
von Getúlio Vargas. Eine Erörterung über das Verständnis von Nationalismus bei
Brizola , geprägt durch Antiamerikanismus und Antiimperialismus, und der
allgemeinen Auffassung über den “normalen” brasilianischen Nationalismus wäre in
diesem Zusammenhang sicher
wünschenswert.
Erfreulich und den
Ansprüchen und Erfolgen Brizolas sicher angemessen scheint mir die Darstellung
des “utopischen Brizolismus”. Es ist die Utopie der Integration, der Beteiligung
der Ausgeschlossenen, das Bemühen die Massen zu einem selbst aktiven Volk zu
werden durch ein intensives politisch-pädagogisches Bildungsprogramm. Es ist der
Wunsch, eine starke, autonome Nation zu werden. Es ist die später oft,
vielleicht zu oft genutzte Formel von Medellin der “vorrangigen Option für die
Armen”.