P.O.E.Gogolok



Leonel Brizola (1922-2004)

Die wichtigste Figur des Widerstandes gegen die letzte Militärdiktatur in Brasilien, Leonel de Moura Brizola, ist tot. Er starb im Alter von 82 Jahren in Rio de Janeiro. Präsident Lula da Silva ordnete eine dreitägige Staatstrauer an. Wegen seines entschlossenen Widerstandes gegen das Militärregime der Jahre 1964 bis 1985 musste der legendäre linke Führer Brizola fast 15 Jahre im Exil in Uruguay verbringen

Kindheit und Jugend

Brizola wurde am 22. Januar 1922 mit dem Namen Itagiba in der Siedlung Cruzinha geboren, das damals zum Distrikt  von Passo Fundo gehörte, heute Munizip Carazinho in Rio Grande do Sul. Er war der jüngste Sohn einer armen Bauernfamilie, die nicht einmal den Besitztitel für das Stück Land besaß, auf dem sie lebte.

Sein Vater,José de Oliveira Brizola, war Viehhändler und Landwirt, seine Mutter Oniva Moura Brizola, war Grundschullehrerin und hatte vier weitere Kinder. Seinen Vater verlor Leonel sehr früh durch den Bürgerkrieg in Rio Grande do Sul im Jahre 1923. Dort gab es einen Konflikt zwischen Ximangos, Parteigänger des Präsidenten Antônio Augusto Borges de Medeiros, und den Maragatos, Föderalisten der Aliança Libertadora, angeführt von Joaquim Francisco de Assis Brasil. Der Vater Brizolas schrieb sich in das Heer der Maragatos unter dem Kommando von Leonel Rocha ein. Durch die Vermittlung des Kriegsministers endete der Krieg jedoch schnell. Aber José Brizola wurde als kleiner Bauer Opfer der Repressalien der Regierungstruppen. Sie holten ihn aus seinem Haus und führten ihn zur Massenexekution. Im Andenken an den Kommandanten seines Vaters nannte sich der Junge Itagiba später Leonel. Seine Mutter verlor vor Gericht das Haus und das Grundstück. Trotz aller Not, sie heiratete einen Siedler mit weiteren sechs Kindern, brachte sie allen Kindern Lesen und Schreiben bei. Die große Familie zog nach São Bento, wo Leonel Brizola die Grundschule besuchte. Als seine älteste Schwester heiratete, zog er mit ihr nach Passo Fundo, wo er das erste Grundschuljahr beendete und als Laufbursche arbeitete. Mit 10 Jahren kehrte er nach Carazinho zurück und arbeitete dort als Tellerwäscher, Schuhputzer, Zeitungsjunge und Gepäckträger am Bahnhof, dabei bemüht, seine  Lese- und Rechtschreibkenntnisse nicht zu vernachlässigen.

Im Jahre 1933 nahm ihn ein methodistischer Pfarrer auf und sorgte für den regelmäßigen Schulbesuch im Kolleg der Methodisten. Bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium erlangte er den ersten Platz und erhielt vom Präfekten von Carazinho ein Empfehlungschreiben an den Direktor des “Instituto Agrícola de Viamão” und ein Bahnticket nach Porto Alegre. Dort kam der damals 14jährige im Februar 1936 an. Er musste seinen Lebensunterhalt als Geldwechsler und Liftboy verdienen. Bis 1939 konnte er in der Schule wohnen. In diesem Jahr erhielt er das Diplom als Landwirtschaftstechniker und bekam eine Arbeit in einer Raffinerie in Gravataí. Nach seinem zwanzigsten Lebensjahr legte er eine Prüfung als Aufsichtbeamter des Landwirtschaftsministeriums ab. Er zog es aber vor, als Gärtner für die Präfektur von Porto Alegre zu arbeiten, weil er hier die Ergänzungsprüfung ablegen konnte, um im Jahre 1945 die Fakultät für Ingenieurwesen der Universität von Rio Grande do Sul zu besuchen.

 

 Anfänge als Politiker

Am 29.Oktober 1945, kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, endete auch durch die Militärs die Ära Vargas. Dieser hatte am 10. November 1937 durch einen Staatsstreich die Macht in Brasilien erlangt und den “Neuen Staat” (Estado Novo) ausgerufen. Der Neue Staat war durch einen stark ausgeprägten Nationalismus und Populismus, allerdings auch durch eine starke Betonung der städtischen Arbeiterschaft und einer auf Industrialisierung gerichteten Wirtschaftsentwicklung geprägt, die vom Staat gelenkt wurde. Regierungstreue Gewerkschaften wurden gegründet. Staatsbetriebe dominierten. Die Pressefreiheit wurde weitgehend eingeschränkt, die Parteien aufgelöst.

Nach der Vargas-Diktatur begann ein Prozess der Redemokratisierung und der Reorganisation der politischen Parteien. Leonel Brizola befand sich zu dem Zeitpunkt durch sein Studium im universitären Milieu. Er sah sich als Studentenführer gedrängt, am politischen Leben aktiv teilzunehmen und trat der noch im Mai 1945 von Vargas und seinen Anhängern gegründeten “Brasilianischen Arbeiterpartei” (PTB/ Partido Trabalhista Brasileiro) bei. Zusammen mit anderen Studenten und einigen Gewerkschaftsführern bildet Brizola den ersten Kern von jungen Menschen der PTB in Rio Grande do Sul. Er  gründet in der PTB die Gruppe “Arbeiterjugend” (Mocidade Trabalhista), auch als “Jugend-Flügel” bekannt, und wird ihr erster Präsident.

Im Januar 1947 gelang es der PTB mit der größten Fraktion in das Parlament von Rio Grande do Sul einzuziehen. Einer der Abgeordneten mit der höchsten Stimmenzahl war Brizola. Dort zeigte er seine Selbstständigkeit, als er gegen die Stimmen seiner Partei gegen den Ausschluss dreier kommunistischer Abgeordneter stimmte. 1950 wurde er für weitere 4 Jahre als Abgeordneter mit der höchsten Stimmenzahl wiedergewählt und übernahm den Fraktionsvorsitz der PTB. Zwischendurch beendete er im Jahre 1949 sein Ingenieurstudium und heiratete im März 1950 Neusa Goulart, Schwester des späteren Präsidenten João Goulart. Trauzeuge war Getúlio Vargas.

Als er sich 1951 als Kandidat für die Präfektur von Port Alegre aufstellen ließ, verlor er die Wahl. Ein Jahr später wurde er Bauminister in der PTB-Regierung von Rio Grande do Sul. Als Getúlio Vargas 1954 Selbstmord beging, kandidierte Brizola für das Bundesparlament und gewann  mit mehr als 100 000 Stimmen. Im Jahre 1955 kandidierte er erneut für das Präfektenamt von Porto Alegre und erreichte mit 65% der Stimmen ein eindruckvolles Wahlergebnis. Geprägt wohl von den Erfahrungen seiner Kindheit legte er schon damals einen Schwerpunkt auf die Bildung mit dem Wahlspruch “Kein Kind ohne Schule”. Die erfolgreiche Verwaltung der Stadt Porto Alegre brachte ihm hohes Ansehen. Daher war es keine Überraschung, als er bei der Gouverneurswahl 1958 55% der Stimmen erhielt und in 90 der Munizipien gewann.

 

Gouverneur von Rio Grande do Sul (1959-1962)

Gleich bei seinem Amtsantritt im Jahre 1959 betonte Brizola die Volksbildung und schuf die «Staatliche Wirtschaftskasse» (Caixa Econômica Estadual) für die wirtschaftliche Entwicklung und zusammen mit den Gouverneuren von Santa Catarina und Paraná gründete er die «Regionalbank für Wirtschaftliche Entwicklung» (Banco Regional de Desenvolvimento Econômico/ BRDE). Deren Investitionen waren auf die Infrastruktur des Staates, auf den Bildungssektor und die Agrarreform gerichtet. In seiner Regierungszeit errichtete Brizola 6 302 Schulen und stellte 40 000 Lehrer ein für 700 000 Schüler.

Brizola war ein Pionier bei der Agrarreform Brasiliens. Er enteignete weite Gebiete unproduktiven Landes, schuf das Institut für Agrarreform und händigte 14 000 landlosen Siedlern die Besitzurkunde aus. Alle Ansiedlungen erhielten eine ausreichende Infrastruktur, um die Familien an das Land zu binden. Es handelte sich um eine recht erfolgreiche Initiative.

Getúlio Vargas, der autoritäre Linkspopulist, war Brizolas Idol, als er 1945 in die Politik ging. Auch den Stil des autoritären Vargas übernahm er in seine Ämter, inklusive Personenkult und Zentralisierung des Entscheidungsapparates in einer Hand.

International bekannt wurde Leonel Brizola durch die Verstaatlichung von US-Konzernen. Die Elektrizitätsgesellschaft Rio Grandense war eine Filiale von Bond and Share, dessen Besitz bei der American and Foreign Power Company (Amforp) lag. Der Gouverneur verhandelte längere Zeit über größere Investitionen, um die mangelhafte Elektrizitätsversorgung der Bevölkerung zu verbessern. Gestützt auf die entsprechende Gesetzgebung zahlte er Bond and Share einen symbolischen Cruzeiro und verstaatlichte die Elektrizitätsversorgung am 13 Mai 1959. Trotz internationalem  Druck, vor allem aus Washington, blieb er bei der Verstaatlichung, die auch durch die Gerichte bestätigt wurde.

Das Gleiche führte er 1962 bei der Telefongesellschaft von Rio Grande do Sul durch. Diese war eine Filiale der damals mächtigen International Telephone and Telegraph, als ITT bekannt. Hierbei wurde der Wert der Gesellschaft geschätzt und die Eigentümer entsprechend entschädigt. Die damalige Regierung Kennedy protestierte heftig. Diese Verstaatlichungen brachten Brizola den Ruf ein “agressiver Linker”, ein “Radikaler” und sogar ein “Kommunist” zu sein.

 

Verfassungstreue (1961)

Als am 25. August 1961 der kurz zuvor gewählte Präsident Jânio Quadros von seinem Amt zurücktrat mit dem rätselhaften Argument “Geheime Kräfte” würden ihn dazu zwingen, versuchten die drei Militärminister, die zum reaktionären Flügel gehörten, die normale von der Verfassung vorgesehene Nachfolge durch den Vizepräsidenten zu verhindern. Der damalige Vizepräsident war João Goulart, der sich zu dem Zeitpunkt auf Staatsreise in China befand. Er wurde von den Militärs als Kommunist eingestuft. Brizola bildete schnell eine Radiokampagne, “Dem Netz der Legalität”, dem sich 104 Radiostationen in Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná anschlossen. Hier klagte er die Militärs des versuchten Staatsstreiches an und verteidigte die Verfassungsordnung. Er verteilte sogar Waffen zur Verteidigung an die Bürger, die zu Tausenden dem Aufruf folgten. Das Militärkommando in Brasilia gab Befehl an den Kommandanten des III. Heeres, General Machado Lopes, den Gouverneurspalast Piratini in Porto Alegre mit allen notwendigen Kräften zu stürmen und Brizola zum Schweigen zu bringen, der täglich seine Radio-Ansprachen hielt. Selbst die Luftwaffe erhielt am 28.August 1961 den Befehl falls notwendig, den Piratini-Palast zu bombardieren, der von der Militärbrigade von Rio Grande do Sul und der Bevölkerung gesichert wurde. Hier hielt Brizola seine historisch denkwürdige und für ihn sehr charakteristische Rede, wobei Anklänge an das “Vermächtnis” von Vargas zu erkennen sind:

“Achtung Bevölkerung von Porto Alegre, Achtung Rio Grande do Sul. Achtung Brasilien! Achtung meine demokratischen und unabhängigen Mitbürger! ......

Wir befinden uns in dieser Radiostation, die beschlagnahmt wurde für den Nachrichtendienst, um die Bevölkerung zu informieren und damit behilflich zu sein, den Frieden und die Ordnung zu erhalten. Wir sprechen hier aus dem Pressezentrum, umgeben von Journalisten, die sich nicht zurückziehen wollen und um Waffen und entsprechende Ausrüstung bitten, damit jeder Gelegenheit hat, ein Freiwilliger im Einsatz für die Legalität zu sein.

Dies ist die Situation!  Die bedeutsamsten Fakten möchte ich meinen Mitbürgern im ganzen Land, in Lateinamerika und in der ganzen Welt zu Gehör bringen. Erstens: Ich komme direkt aus meiner Residenz, wo ich mich mit meiner Familie befand. Soeben erhielt ich die Mitteilung , dass der geehrte General Machado Lopes, ein Soldat, von dem ich den besten Eindruck habe, um eine Audienz  bei mir bat über eine Verständigung. Ich habe ihm von hier aus vor meiner Ansprache mitgeteilt, dass ich ihn mit Vergnügen empfangen werde, denn die Diskussion und die Analyse der Probleme stellt ja ein Mittel dar, das zivilisierte Menschen nutzen, um Probleme und Krisen zu beheben. Es kann aber sein, dass dieser Besuch keinen einfachen Freundschaftsbesuch darstellt. Dass diese Ansprache keine Verbindung zwischen der militärischen und der zivilen Macht darstellt zur Verteidigung der Verfassungsordnung, des Rechts und des Friedens, wie sie in diesem Moment gefordert ist zur Verteidigung des Volkes, derjenigen die arbeiten und produzieren, der Studenten und Professoren, der Richter und der Bauern, der Familien.

Alle, sogar unsere Kinder, wünschen, dass die Militärgewalt und die Zivilgewalt sich in dieser Stunde darüber einigen, dass wir in der Legalität leben müssen. Es kann allerdings auch bedeuten, dass der Regierung des Staates ihre Absetzung mitgeteilt wird. Ich möchte euch nur sagen, dass es möglich ist, dass ich keine Gelegenheit mehr haben werde mit euch weiter zu sprechen, dass ich mich nicht mehr von diesem Nachrichtendienst aus an euch richten kann, um die Bevölkerung aufzuklären. Es ist natürlich klar, dass im Fall eines Ultimatums auch ernsthafte Konsequenzen eintreten. Denn wir werden uns keinem Staatsstreich unterwerfen, keinem willkürlichen Beschluss. Wir haben nicht vor, uns zu unterwerfen. Mögen sie uns zerquetschen! Uns zerstören! Uns niedermetzeln in diesem Palast. Niedergemacht wird Brasilien durch die Aufnötigung einer Diktatur gegen den Willen des Volkes. Diese Radiostation wird zum Schweigen gebracht, wie die anderen Sender. Doch sicher ist, dass sie nicht ohne Kugeln zum Schweigen gebracht werden. Sowohl hier als auch an den anderen Sendestationen sind wir bewacht von starken Kontingenten der Militärbrigade...

Achtung, meine Mitbürger! Hier die Mitteilung: Gestern Abend erklärte über den “Reporter Esso” der Kriegsminister Marschall Odílio Denys,-  ein Soldat, der mit 70 am Ende seiner Karriere, schwerste, unsinnige Entscheidungen fällt,-  dass er mit der Amtsübernahme von Herrn João Goulart nicht einverstanden sei. Dass er nicht einverstanden sei, dass der verfassungsmäßige Präsident seine legalen Funktionen ausübe! Denn, so erklärt er in einer kindischen und unannehmbaren Argumentation, das würde eine Option zwischen Kommunismus oder dem Nichts bedeuten. Das ist kindisch, meine Landsleute! Das ist kindisch, meine Mitbürger!  Wir stehen gar nicht vor diesem Dilemma. Diese oder jene Doktrinen mögen hingehen, wo sie wollen. Wir stehen nicht vor einer Unterwerfung unter die Sowjetunion oder die Vereinigten Staaten. Dazu habe ich eine klare Position. Allerdings habe ich das, was vielen überdrehten Antikommunisten fehlt, nämlich den Mut zu sagen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, um ihre Monopole und Trusts zu schützen, diese leidende und verelendete Nation ausbeuten und plündern. Ich bemühe mich um Unabhängigkeit. Ich denke weder in Richtung der Russen noch der Amerikaner. Ich denke an Brasilien und die Republik. Wir wollen ein starkes und unabhängiges Brasilien. Kein Brasilien, das Sklave der Militaristen, der nordamerikanischen Trusts und Monopole ist. Wir haben nichts mit den Russen. Aber wir haben auch nichts mit den Amerikanern, die plündern und unser Vaterland in der Armut, dem Analphabetismus und der Misere hält...

 

Ich wurde darüber informiert, dass alle Flughäfen Brasiliens, auf denen größere internationale Flugzeuge landen, von Soldaten bewacht werden mit dem Befehl, Herrn João Goulart bei seiner Ankunft zu verhaften. Vor kurzem habe ich mit João Goulart in Paris gesprochen und ihm erklärt, dass alle unsere gestrigen Gespräche abgehört worden seien. Dafür habe ich Beweise... Heute sagte ich João Goulart: «Du musst nach Deiner Überzeugung entscheiden. Du solltest nach Brasília fliegen, so ist mein Rat, oder zu irgendeinem Punkt Lateinamerikas. Die Entscheidung liegt bei Dir! Du solltest direkt nach Brasília kommen, das Risiko eingehen und dafür bezahlen, um klar zu sehen. Nimm eines Deiner Kinder in den Arm. Steige aus ohne Revolver im Gürtel, wie ein zivilisierter Mensch. Komm in ein kultiviertes und politisiertes Land, wie Brasilien es  ist und nicht in eine Mini-Republik, wo die Caudillos, die Oligarchien herrschen, die sich allmächtig glauben. Flieg nach Uruguay, diese Festung der Freiheit, nahe bei uns. Von hier aus erarbeite Deine Pläne, wie Du sie am angemessensten findest.»”

Nachdem Brizola die Soldaten des III.Heeres und ihren Kommandanten General Machado Lopes daran erinnert, dass sie Hüter der Ordnung und des Vaterlandes seien, bezeichnet er nochmals die Entscheidung des Kriegsministers Odilio Denys als Irrsinn. Er verweist darauf, dass auch der Erzbischof von Porto Alegre D.Vicente Scherer mit allen Kardinälen Brasiliens für den Frieden und die legale Ordnung sind. Er zitiert schließlich aus abgehörten Meldungen der Militärs. So soll General Orlando Geisel auf Anordnung von Marschall Odilio Denys folgende Befehle erteilt haben: Der Kommandant des III. Heeres müsse die Aktion verhindern, die von Gouverneur Brizola ausgehe. «Lassen sie alle Truppen von Rio Grande do Sul gegen Porto Alegre vorrücken, falls sie es für angemessen halten.» Die Luftwaffe solle eine Bombardierung durchführen, wenn es notwendig werden sollte. Am Schluss seiner Rede ruft Brizola seine Zuhörer zum Protest auf:

“Volk von Porto Alegre, meine Freunde von Rio Grande do Sul. Ich wünsche keinen zu opfern, aber kommen sie vor den Eingang dieses Gouverneurssitzes, in einer Demonstration des Protestes gegen diesen Irrsinn und Unverstand. Kommt! Und wenn diese das Gemetzel begehen wollen, könnt ihr euch zurückziehen, aber ich werde mich nicht zurückziehen und werde bis zum Ende bleiben. Ich mag zerschmettert werden. Ich mag zerstört werden. Ich mag zu Tode kommen, ich, meine Frau und viele meiner zivilen und militärischen Freunde von Rio Grande do Sul. Das macht nichts. Es bleibt unser Protest und wir waschen die Ehre dieser Nation rein. Wir werden hier Widerstand leisten bis zum Ende...”

Nach dieser Rede empfing Brizola den General Machado Lopes. Dieser teilte ihm mit, dass alle Generäle des III.Heeres sich entschlossen haben, für die Verfassungsordnung zu kämpfen und keine Befehle aus Brasilia annehmen werden. Diese Entscheidung wurde von Brizola unmittelbar der auf 100000 Menschen angewachsenen Menge mitgeteilt, die sich vor dem Paritini-Palast versammelt hatte. Mit der Unterstützung des III.Heeres richtete sich das Land wieder auf und João Goulart konnte in Brasilien über Montevideo am 1. September 1961 einreisen und in Porto Alegre heimatlichen Boden betreten.

Trotz der Gefahr einer Auseinandersetzung mit dem II. Heer von São Paulo und eines Angriffs durch die Kriegsmarine bereitete sich Brizola darauf vor - mit Unterstützung des III. Heeres - mit Truppen auf Brasília vorzurücken, um die Amtsübernahme des Präsidenten zu sichern. Der bisherige Vizepräsident Goulart jedoch versuchte einen Bürgerkrieg zu verhindern und nahm den ausgehandelten Kompromiss eines Parlamentarismus anstelle des bisherigen Präsidialsystems in Kauf. So konnte er am 7.September 1961 das Präsidentenamt übernehmen, musste allerdings einen Ministerpäsidenten als Regierungschef einsetzen.

 

Kongressabgeordneter (1962-1964)

Im Oktober 1962 wird Brizola zum Abgeordneten des Kongresses in Brasilia gewählt. Er wird mit 269000 Stimmen aus dem damaligen Staat Guanabara zum meistgewählten Abgeordneten überhaupt. Im Kongress führt er den links-nationalen Flügel an. Dabei bekämpft er immer wieder den nordamerikanischen Imperialismus und verteidigt die Kontrolle ausländischen Kapitals, sowie eine vollständige Überprüfung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Durch die Gründung einer “Front zur Volksmobilisierung” (Frente de Mobilização Popular) versucht er, Basisreformen durchzusetzen. Zu dieser Mobilisierung gehören die Nationale Parlamentarische Front, die Nationale Studentenunion (União Nacional dos Estudantes/ UNE), die Gewerkschaftsbewegung CGT (Central Geral dos Trabalhadores), sowie die bekanntesten linken Politiker, wie der Kommunistenführer Prestes, der damalige Gouverneur von Pernambuco Miguel Arraes (PST) und der Führer der Bauernligen Francisco Julião.

Da die Regierung Goularts zögert, übt Brizola einen starken Druck auf die Regierung aus, um so das Anliegen der Reformen, vor allem der Agrarreform, zu beschleunigen. Er versucht überall 11er Gruppen nach dem Vorbild kommunistischer Zellen zu bilden, den von den Militärs gefürchteten und auch von Vertretern der katholischen Kirche mit Misstrauen beobachteten  “Grupos dos Onze”.

 Das Versagen der Regierung in der Wirtschaftspolitik, die Unzufriedenheit der Großgrundbesitzer und ihre Angst vor einer substantiellen Agrarreform, sowie die Rebellion der Unteroffiziere im Jahre 1963 lassen erneut die Gefahr eines Putsches von Rechts aufkommen. Ohne große Unterstützung durch die Bevölkerung entschließt sich Goulart schließlich im Jahre 1964 Basisreformen durchzuführen. So unterzeichnet er spektakulär in Rio de Janeiro die Dekrete zur Agrarreform und zur Aufhebung der Kontrakte für die Erdölraffinerien.

 

Militärputsch und Exil (1964-1979)

Doch die Entscheidungen kommen zu spät. Die Militärs und rechte Politiker hatten in der Presse und in der katholischen Kirche Sympathisanten gefunden. Am 31. März 1964 geben der Gouverneur von Minas Gerais Magalhães Pinto und General Mourão Filho das Zeichen für einen Militärputsch, der zur am längsten  andauernden Militärdiktatur Lateinamerikas führen sollte. Brizola versucht noch einmal in Rio Grande do Sul den Widerstand zu organisieren, aber die Umstände hatten sich geändert. João Goulart entscheidet sich, auf Widerstand zu verzichten. Brizola verlässt nach einem kurzen Aufenthalt im Untergrund im Mai Brasilien, denn er stand schon auf einer Liste von Personen, die, ihrer Mandate beraubt, ihre Rechte verlieren und umgehend von den Militärs verhaftet werden sollten.

In Abwesenheit werden von den Militärs gegen Brizola acht Prozesse inszeniert mit  formaljuristisch hohem Aufwand. In den Prozessen des Jahres 1969 wird er am 8.Mai vom Militärgericht des Heeres wegen Bildung der 11er-Gruppen zu zwei Jahren Haft verurteilt, am 20. August von einem anderen Militärgericht zu drei Jahren Haft wegen subversiver Tätigkeit beim Radio Mayrink Veiga.  Im Juni 1970 wird er wiederum durch das Militärgericht des Heeres zu 10 Jahren Haft verurteilt, weil er in Barra Mansa und Volta Redonda die kommunistische Partei reorganisiert haben soll. Selbst der Ankläger Osiris Josephson bat um Freispruch für den abwesenden Angeklagten wegen “der Unsicherheit der produzierten Beweise”. Im gleichen Prozess wurde auch Luiz Carlos Prestes zu 10 Jahren Haft verurteilt. In weiteren Prozessen wurde Brizola freigesprochen, bzw. der Prozess archiviert. So der Prozess bei einem Militärgericht der Luftwaffe im Jahre 1972, in dem auch die Ex-Präsidenten João Goulart,  Jânio Quadros und selbst Juscelino Kubitschek, der Erbauer der Hauptstadt Brasília, als Kommunisten angeklagt waren.                                                                                                                        

Während João Goulart auch im Exil eine vermittelnde, diplomatische Rolle einnahm, auf den Verschleiß der Militärdiktatur hoffte, versuchte Brizola zunächst die zahlreichen brasilianischen Exilanten in Montevideo zu sammeln. Seine Anhänger mieteten ein Kino an, um sich zu organisieren, vor allem aber um die bedürftigsten Exilanten zu versorgen. Bei dieser Gelegenheit soll Brizola nach Aussage von Mauro Santayana, einem der damaligen  Exilanten, eine der besten Solidaritätsreden gehalten haben. Hier im Exil gäbe es keine Chefs oder Untergebene. Hier seien alle gleich. Es bliebe die einzige Möglichkeit, die des Zusammenhalts über ideologische Unterschiede hinweg, erklärte er. “Wenn keiner von uns mehr ein zweites Hemd haben sollte, dann müssen wir das eine Hemd zerreissen und die eine Hälfte  dem geben, der mit nackter Brust da- steht.” Die Exilanten sahen in ihm einen natürlichen Führer. Allerdings teilten nicht alle seine anfängliche Meinung, dass eine militärische Aktion gegen die Militärs Erfolg haben könnte.

Die von Elio Gaspari in einer Fußnote erwähnte  revolutionäre MNR von Brizola in Imperatriz im Jahre 1965 stützt sich auf eine Äusserung von Flavio Tavares. Sonst bemüht sich Elio Gaspari in seinem dreibändigen Werk über die Militärdiktatur, das weitgehend aus der Sicht der Generäle geschrieben ist, Kontakte Brizolas zu Kuba nachzuweisen, was bei der Flut von Exilanten, die auch in Kuba gelandet sind, normal war. Gaspari erklärt allerdings auch: “Der Ex-Gouverneur war ehrlich als er erläuterte, dass er in der kubanischen Guerrilha keine angemessene Taktik für die brasilianische Erhebung gesehen habe. Er habe schon in der ersten Hälfte des Jahres 1965 seine Meinung geändert.” In einem Interview der 80er Jahre ergänzte Brizola, dass er in der damaligen verzweifelten Situation selbst eine Allianz mit jemandem mit Bocksbeinen akzeptiert hätte. Trotz mancher theoretischer Diskussionen in Montevideo mit dem Romancier Antônio Callado und dem Schriftsteller Otto Maria Carpeaux über einen Einsatz in Brasilien, kam es nicht zu einem militärischen Vorgehen. Trotzdem behauptet Gaspari, dass Brizola im Februar 1966 drei Guerrilha-Gruppen auf der Landkarte gehabt hätte, eine davon in Mato Grosso. Anderseits habe Brizola den abenteuerlichen militärischenEinsatz des Sargenten Alberi Vieira dos Santos im Jahre 1965 in Brasilien in keiner Weise unterstützt.

Gaspari muss jedenfalls zugeben, dass auch aus seiner Sicht “von 1965 bis zu Beginn des zweiten Semesters des Jahres 1966 der herausragendste Chef des linken Radikalismus Brizola war, eine Stellung, die der größte Teil der Exilierten nach und nach durch die Banalität des Ausgeschlossenseins verlor.” Die besondere Stellung Brizolas wurde von dem damaligen Chefideologen des Militärs Golbery erkannt, so dass der aus seiner Sicht an Castello schrieb: “Es ist evident, dass der Brizolismus, der internationale Kommunismus und der Peronismus Hand in Hand gehen.”

Im Exil in Uruguay beginnt Brizola langsam, seine internationalen Kontakte auf- und auszubauen. Die Sozialdemokraten Europas beeindrucken ihn mit ihrer stets unbeugsamen, positiven Haltung zur Demokratie. Die Sozialistische Internationale scheint ihn beeinflusst zu haben und eine Handlungsebene zu bieten. Der Aufstand der 68erGeneration hat ihn wohl weniger berührt, obwohl er ein Gespür bekam für die “neue Linke” der heranwachsenden Generation. Die Diskussion der 70er  Jahre um die Menschenrechte verfolgt er intensiv.

Das Militärregime Brasiliens verfolgt Brizolas Leben genau und erreicht durch ihren damaligen Botschafter Pio Corrêa die Verdrängung aus Montevideo in den Badeort Atlântida.

Das anhaltende Prestige Brizolas in Rio Grande do Sul machte dem Militärregime zu schaffen, so dass der damals bekannteste Leitartikler Carlos Castello Branco 1977 schrieb: “Es gab eine Wallfahrt von Besuchern zum Ex-Gouverneur von Rio Grande do Sul und die Karawane verstärkte sich zu Wahlzeiten, wenn ein Besuch bei Brizola Stimmen einbringen konnte in den Schwerpunktorten der PTB. Bundes- und Landtagsabgeordnete, Gemeinderäte verloren ihr Mandat durch die Unklugheit, dass sie ihre Treue zu dem in Ungnade gefallenen politischen Chef   öffentlich bekannten.”

Schließlich im Jahre 1977 erreichen die brasilianischen Militärs die Ausweisung Brizolas aus Uruguay. Sie rechnen damit, dass er nach Caracas oder noch besser in das weit entfernte Mexiko abgeschoben würde. Eventuell konnten sie sich ein Exil in Europa, vor allem Portugal vorstellen.

 Dass er Aufnahme findet in den Vereinigten Staaten, war für sie undenkbar, wo er doch immer wieder die Vereinigten Staaten angegriffen hatte. Die damalige Regierung Carter nahm die Menschenrechtsfrage sehr ernst, so dass Brizola keine Schwierigkeiten bei der Erteilung eines Einreisevisums bekam. Er war ja als Politiker international bekannt geworden. Auf einmal erschien Brizola  für die Militärs auf internationaler Ebene, konnte weltweit reisen und sich mit anderen Exilbrasilianern ungestört treffen.

 Seine Bemühungen, die Redemokratisierung Brasiliens vorzubereiten, mussten allerdings lange auf erste Erfolge warten. Zwar gab es in verschiedenen Ländern unterschiedliche Komitees für eine allgemeine Amnestie in Brasilien, aber erst im Jahre 1979, also 15 Jahre später - als man in Brasilien von einem langsamen Ausklingen der Diktatur sprach und eine Amnestie anvisierte- konnte Brizola mit Hilfe von Mário Soares, dem Sozialistenführer Portugals, in Lissabon ein Treffen von Arbeiterführern organisieren. Dort trafen sich verschiedene Oppositionelle, die im Exil lebten. Dort erarbeitete man den sogenannten «Brief von Lissabon», ein programmatisches Dokument, um die PTB in Brasilien wieder aufleben zu lassen und zu reorganisieren.

  Das Treffen der Verteidiger der Arbeiterschaft, “trabalhistas” genannt, aus Brasilien mit den Arbeiterführern im Exil begann schon am 13. Juni 1979 in Lissabon. Mario Soares, der Ministerpräsident Portugals, ließ es sich nicht nehmen die Teilnehmer im eindrucksvollen Sitz der Sozialistischen Partei am Largo Rato zu begrüßen. Alle Teilnehmer kamen entweder aus dem Exil oder waren in Brasilien ihrer Ämter und politischen Rechte beraubt worden. Auch die an Entführungen und Banküberfällen Beteiligten, die Brizola «die Pistolen-Gruppe» nannte, waren anwesend. Die Militärs zögerten noch mit ihrer Zustimmung zu einer vollständigen Amnestie. Brizola versuchte eine gemäßigte, vermittelnde Haltung einzunehmen bei seinen Erklärungen, um die Entscheidung der Militärs nicht negativ zu beeinflussen. Allerdings war die Presse daran interessiert, möglichst viele Einzelheiten zu bringen. Teilweise gaben die Redaktionen in Brasilien den Beiträgen ihrer Korrespondenten provokative Überschriften. Dadurch entstanden wiederum erhebliche Missverständnisse und Empfindlichkeiten.

In dem von mehr als 100 Teilnehmern am 17..Juli 1979 unterzeichneten «Schreiben von Lissabon» heisst es: “ Wir Brasilaner, die wir für eine arbeitergemäße Lösung optiert haben, erkennen die dringliche Aufgabe einer Befreiung unseres Volkes und dazu treffen wir uns hier in Lissabon. Dass wir dies ausserhalb des Landes gemacht haben, hängt damit zusammen, dass das willkürlich und unmenschlich verhängte Exil dieses Treffen am geeignetesten Ort verhindert hat: im   brasilianische Vaterland. Die Aufgabe, mit unserem Volk eine wahrhaft nationale, volksnahe und demokratische Partei zu gründen, erscheint immer drängender... Die geschichtliche Erfahrung lehrt uns einerseits, dass keine Partei an die Regierung kommen und sich dort halten kann ohne die Unterstützung durch das organisierte Volk, anderseits kann keine Volksbewegung ihre Erwartungen verwirklichen ohne Parteien, die diese  durch die Macht des Staates realisieren. Die fehlende organisierte Unterstützung durch das Volk kann zu dramatischen Situationen führen, wie jene, die Präsident Getúlio Vargas dazu führte, sich in die eigene Brust zu schießen. Organisierte Parteien und ein organisiertes Volk bilden also die grundlegenden Bedingungen für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft...”

Nachdem die Unterzeichner ein Mehrparteiensystem gefordert haben, werden ebenso freie Gewerkschaften, die vollständige Freiheit intellektuellen Schaffens, Freiheit des Ausdrucks und der Presse eingefordert, der Widerruf aller Formen von Zensur. Es wird nochmals auf die Illegalität des Militärputsches von 1964 eingegangen, der die Reichen noch reicher gemacht hat und eine Schuldenlast von 50 Mrd. US$ hinterlässt. Als Aufgabe ihrer Partei sehen die Beteiligten vier Bereiche:

- Die Rettung von Millionen von verlassen und hungrigen Kindern und ihre Einschulung, damit nicht jährlich eine halbe Million Analphabeten entstehen;

- Gerechtigkeit für die Schwarzen und Indianer, die unter rassischer und ethnischer Diskriminierung leiden;

- Anerkennung der Rechte brasilianischer Frauen, die niemals anerkannt und gerecht behandelt wurden, doppelt ausgebeutet durch ein zweifaches Tagewerk;

- Verteilungsgerechtigkeit für alle Regionen Brasiliens, vor allem den Norden und Nordosten.

 Mit dem nochmaligen Hinweis auf die Inspiration durch das «Vermächtnis» von Getúlio Vargas versprechen die Teilnehmer des Treffens von Lissabon vertrauensvoll: “Von diesem Moment an werden wir alle unsere Kräfte auf die Vorbereitung und Organisation des Nationalkongresses der Organisation der neuen PTB richten, der am 19. April 1980 in Rio de Janeiro stattfinden soll.”

 

 

Amnestie, Rückkehr und Aufbau der Partei (1979-1982)

Obwohl schon im Jahre 1972 die damalige sogenannte Oppositionspartei MDB das Anliegen der Amnestie in ihr Programm aufnahm, gelang es erst drei Jahre später in Brasilien eine Amnestiebewegung zu gründen, nämlich in São Paulo die “Frauenbewegung für die Amnestie” (Movimento Feminino pela Anistia). Im Jahre 1978 entstand dann in Rio de Janeiro das “Brasilianische Komitee für die Amnestie” (Comitê Brasileiro pela Anistia). Senator Teotônio Vilela untersuchte als Vorsitzender einer gemischten Kommission die Situation der Politischen Häftlinge. Schließlich am 28. August 1979 wurde unter der Regierung Figueiredo das Amnestiegesetz erlassen, das allen Exilierten die Rückkehr in ihre Heimat erlaubte, allerdings auch alle Militärs vor Strafverfolgung schützte.

Brizola kehrte schon am 6. September 1979 nach Brasilien zurück und ließ sich in Rio de Janeiro nieder. Er musste zunächst intensiv um den Aufbau einer Arbeiterpartei kämpfen, da ihm 1980 eine politische Gruppe um Ivete Vargas die Bezeichnung seiner Partei, der PTB, beim Obersten Wahlgericht streitig machte. So entschied er sich eine abgeänderte Form zu benutzen und seine Partei “Demokratische Arbeiterpartei” (Partido Democrático Trabalhista/ PDT) zu nennen. Er wurde ihr erster Präsident. Auch die neue Partei lässt sich in ihrem Programm  vom Inhalt des von Getúlio Vargas hinterlassenenVermächtnisses, der sogenannten “Carta Testamento” inspirieren. Demokratie und Teilhabe der Frauen an  allen  politischen Entscheidungen, Nationalismus und Sozialismus sind weitere Schlüsselwörter für die Partei.

 

 

Vermächtnis (Carta Testamento) von Getúlio Vargas

Noch einmal mehr haben sich die Kräfte und Interessen gegen das Volk zusammengetan und sich erneut über meiner Person entladen. Sie klagen mich nicht an, sie beleidigen mich; sie bekämpfen mich nicht, sie verleumden mich und geben mir nicht das Recht zur Verteidigung. Sie müssen meine Stimme ersticken und mein Handeln verhindern, damit ich nicht weiterhin fortfahre das Volk, insbesondere die Armen zu verteidigen, so wie ich sie immer verteidigt habe.

Ich folge meiner Bestimmung, wie sie mir auferlegt ist. Nach Jahrzehnten  der Beherrschung und Ausplünderung durch internationale Wirtschafts- und Finanzgruppen  machte ich mich zum Anführer einer Revolution und siegte. Ich begann die Befreiungsarbeit und richtete eine Ordnung sozialer Freiheit ein. Ich kehrte auf den Händen des Volkes in die Regierung zurück. Der unterschwelligen Kampagne der internationalen Gruppen gesellten sich die nationalen Gruppen, die aufgebracht sind gegen die Ordnung der Arbeitsgarantie. Das Gesetz gegen außerordentliche Gewinne wurde im Kongress aufgehalten. Gegen die Bestätigung des Mindestlohnes durch die Justiz entlud sich der ganz Hass. Ich wollte eine nationale Freiheit schaffen durch die Inwertsetzung unserer Reichtümer durch die Petrobras. Aber kaum beginnt sie zu funktionieren, steigert sich die Welle der Agitation. Die Electrobras wurde bis zur Verzweiflung behindert. Sie wollen nicht, dass der Arbeiter frei wird.

Sie wollen nicht, dass das Volk unabhängig wird. Ich habe die Regierung in der Zeit der Inflationsspirale übernommen, die die Werte der Arbeit zerstörte. Die Gewinne der ausländischen Unternehmen erreichten Gewinne von bis zu 500% pro Jahr. Bei der Wertangabe dessen, was wir importieren mussten, gab es festgestellte Betrügereien im Wert von mehr als 100 Millionen Dollar pro Jahr.  Es kam die Kaffe-Krise. Unser Hauptprodukt gewann an Wert.Wir versuchten den Preis zu verteidigen und die Antwort war ein gewalttätiger Druck auf unsere Wirtschaft, so dass wir nachgeben mussten.

Ich habe Woche um Woche gekämpft, Tag für Tag und Stunde um Stunde, habe widerstanden einem dauernden, unablässigem Druck. Ich ertrug alles schweigend, vergaß alles, verzichtete auf mich selbst, um das Volk zu verteidigen, das jetzt ungeschützt bleibt. Ich kann euch nichts mehr geben, es sei denn mein Blut. Wenn die Adlervögel von jemandem das Blut wollen, das brasilianischen Volk weiterhin aussaugen wollen, ich biete mein Leben als Opfer dar.

 Ich wähle dieses Mittel, um immer bei euch zu sein. Wenn man euch demütigt, werdet ihr meine leidende Seele an eurer Seite spüren. Wenn der Hunger an eure Tür klopft, werdet ihr in eurer Brust die Kraft spüren, um für euch und eure Kinder zu kämpfen.

Wenn sie euch verunglimpfen, werdet ihr in euren Gedanken die Kraft zur Reaktion fühlen. Mein Opfer wird euch zusammen halten und mein Name wird eure Fahne im Kampf sein. Jeder meiner Blutstropfen wird eine unsterbliche Flamme in eurem Gewissen sein und den heiligen Eifer zum Widerstand erhalten.

Dem Hass antworte ich mit Verzeihung. Und denjenigen, die meinen mich vernichtet zu haben, antworte ich mit meinem Sieg. Ich war Sklave des Volkes. Heute befreie ich mich für das ewige Leben. Aber dieses Volk, dessen Sklave ich war, wird niemals mehr jemandes Sklave sein. Mein Opfer wird für immer in dessen Seele sein und mein Blut wird das Pfand seiner Erlösung.

Ich kämpfte gegen die Ausplünderung Brasiliens. Ich kämpfte gegen die Ausplünderung des Volkes. Ich habe mit offener Brust gekämpft. Der Hass, die Niedertracht, die Verleumdung haben meinen Mut nicht besiegt. Ich habe euch mein Leben gegeben. Jetzt opfere ich euch meinen Tod. Ich fürchte nichts. Ernst mache ich den ersten Schritt auf meinem Weg in die Ewigkeit und trete aus dem Leben, um in die Geschichte einzutreten.

Rio de Janeiro, 23/08/54 - Getúlio Vargas

 

 

 

Gouverneur von Rio de Janeiro (1983/87 und 1990/1994)

Bei der ersten freien Gouverneurswahl im Jahre 1982, in der eine Vielzahl neu gegründeter Parteien antraten, gelang es Brizola im ersten Wahlgang das Amt des Gouverneurs des Staates Rio de Janeiro zu erlangen. Sein Vizegouverneur wurde der international bekannte Anthropologe Darcy Ribeiro.

Mit der Wahl Brizolas zum Gouverneur von Rio de Janeiro tritt die Partei aktiv in das politische Leben Brasiliens ein.  In den Kommunalwahlen von 1985 erobert die PDT mit Saturnino Braga die Präfektur von Rio de Janeiro und mit Alceu Collares die von Porto Alegre. Das bewies wieder die charismatische Führungsrolle Brizolas. Im gleichen Jahr unterstützte die PDT die Präsidentschaftskandidatur von Tancredo Neves, allerdings nur für eine Amtszeit von zwei Jahren. In den Kommunalwahlen von 1988 siegte die PDT in São Luís (Jackson Kepler Lago), Curitba (Jaime Lerner) und Natal (Wilma Maia).

Das Markenzeichen Brizolas aus diesen Jahren als Gouverneur von Rio de Janeiro trägt das Kürzel CIEPs. Das steht für ”Integrierte Zentren der Volkserziehung” (Centros Integrados de Educação Popular),  ein Schultypus, mit dem er Erziehung und Bildung zu fördern suchte. Eine Art von Ganztagsschule, in der die Schüler  der Armenviertel Rio de Janeiros das Zusammenleben erlernen sollten, regelmäßigen Unterricht bekamen und gesunde und ausreichende Mahlzeiten erhielten.  Die mehr als 500 Gebäude, immer nach dem gleichen Muster nach den Entwürfen Oscar Niemeyers in Beton gegossen, stehen bis heute - nur dass der Volksmund diesen Schultyp nicht mehr Ciep nennt, sondern ”Brizolão”, der “Große Brizola”.  Darcy Ribeiro fand hier die Unterstützung, um seine pädagogischen Ideen und die eines Anísio Texeira in die Tat umzusetzen. Obwohl die Brizola  nachfolgenden Gouverneure diese Modellschulen vernachlässigten, so Moreira Franca von der PMDB und Marcelo Alencar von der PSDB,  versuchte Brizola mit allen Mittel in seiner zweiten Regierungszeit dieses System auszubauen. Im Jahre 1993 setzte er 54,91% des Staatshaltes  für diese Schulen ein. Von den 506 Gebäuden wurden 97 an die Stadt Rio de Janeiro übergeben, die darin konventionelle Schulen unterhält, 343 funktionierten im März 1994 weiterhin als Ganzta gsschulen  für die ersten bis fünften Klassen mit 205 000 Tagesschülern und 137 000 Abendschülern. Die anderen 66 Gebäude beherbergten die 6. bis 8.Klassen im Hauptschulbereich und die drei Klassen der Oberstufe mit insgesamt 59 000 Schülern.  Eine externe Evaluierung zeigte, dass im Gegensatz zum normalen brasilianischen Schulbetrieb die Erfolgsquote bei dem dreijährigen System bei 88%, bei dem 5jährigen System bei 74% lag. Hinzu kam zu diesem Zeitpunkt der Fernunterricht, bei dem über den Fernsehkanal TV Manchete täglich von 9 bis 10 Uhr für ganz Brasilien ein Schulfernsehprogramm ausgestrahlt wurde.

Darcy Ribeira war  der Überzeugung, dass vor allem die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, sowie die Erarbeitung didaktischen Materials in Buch- und Video-Kassetten-Form der wichtigste  und dauerhafteste Beitrag dieser Bildungsinitiative der Regierung Brizola gewesen sind. Mehr als 10 000 Lehrkräfte wurden durch dieses System erreicht.

Brizola schien sich trotz seiner Gegenkandidatur mit der Wahl Collors zum Präsidenten abgefunden zu haben, so dass er ihm seinen Plan von 5 000 Gesamtschulen nach dem Modell von Rio de Janeiro für ganz Brasilien unterbreitete. Collor war begeistert und erklärte diesen Plan zum großen Projekt seiner Regierung.

In dieser seiner zweiten Amtszeit als Gouverneur ab dem Jahr 1990, wo er mit 60% Stimmenanteil gewann, setzte er sich ein Denkmal, das die Brasilianer besonders lieben: Der weltberühmte Architekt und bekennende Kommunist Oscar Niemeyer baute unter Brizola das ”Sambodrom”, die Paradestraße für den Karneval. Jetzt will Oscar Niemeyer eine Gedenkstätte für ihn im Zentrum Rio de Janeiros entwerfen, das “Memorial Leonel Brizola”.

 

In der Opposition (1998-2004)

Der Versuch Brizolas, im Jahre 1989 die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, misslang. Schon bei den Meinungsumfragen im Juni 1989 erlangt er nur einen Stimmenanteil von 11% gegenüber 43% von Collor. Damals erreichte Lula 4% der Stimmen. Die folgenden Fernsehdiskussionen fanden - durch Intervention des Medienzaren Roberto Marinho der TVGlobo - nur zwischen Collor und Lula statt.

Zum Ende seiner Amtszeit als Gouverneur startete er einen zweiten Versuch für die Präsidentschaft im Jahre 1994, der ebenfalls misslang.

 Zuletzt trat er 1998 als Kandidat für die Vizepräsidentschaft zusammen mit dem derzeit amtierenden Präsidenten Lula da Silva an. Nach der damals verlorenen Wahl verfeindeten sich beide Politiker. Obwohl er eine der zentralen Figuren der brasilianischen Politik war, ging ein Lebenstraum nicht in Erfüllung, zweimal scheiterte er als Präsidentschaftskandidat.

Zuletzt ließ er, mittlerweile politisch ohne großen Einfluss, nur noch als Enttäuschter von sich hören - das aber mit der spitzzüngigen Schärfe, die ihn immer ausgezeichnet hat. In Anzeigen wetterte er regelmäßig gegen die Mitte-links-Regierung seines ehemaligen Bundesgenossen, Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der in seinen Augen die gemeinsamen Ideale verraten hat.

Doch bis wenige Tage vor seinem Tod verhandelte der 82jährige  noch mit der Gouverneurin von Rio de Janeiro, Rosinha Matheus (PMDB) und dem Minister für Öffentliche Sicherheit, Anthony Garotinho, über die Möglichkeit einer eigenen Kandidatur für das Präfektenamt von Rio de Janeiro. Dieser Versuch einer Allianz zwischen PMDB und PDT wurde auch einen Tag nach Brizolas Tod  von Garotinho bestätigt. “Er war begeistert. Seine Kandidatur hätte den Wahlkampf Rios nationalisiert,” erklärte Garotinho. 

Der ”bärtige Frosch”, wie Brizola Lula einmal genannt hat, ordnete trotz aller Differenzen drei Tage Staatstrauer an, als Brizola am 21.Juni in Rio de Janeiro starb: ”Selbst in den Zeiten der Meinungsverschiedenheiten” habe er stets ”tiefen Respekt und tiefe Bewunderung” für die politische Geschichte seines wortgewaltigsten Kritikers auf der Linken gehegt, sagte Lula.

Die Anhänger Brizolas empfingen Lula bei seinem kurzen Kondolenzbesuch in Rio de Janeiro mit  Agressivität. An der Beisetzung Leonel Brizolas in São Borja, in der Nähe seines Idols Getúlio Vargas, nahmen mehr als 25 000 Trauergäste teil, vor allem aber seine treuesten Gefolgsleute.

 

Brizolismus

Die schon im Dezember 1964 von General Golbery als Brizolismus bezeichnete Bewegung um Brizola und seine Anhänger  bedarf einer näheren Betrachtung, da damit die Auswirkungen und das Weiterwirken der Ideenwelt Brizolas zu bedenken sind. Diesem Thema widmet sich in einer ausführlichen Studie João Trajano Sento-Sé unter dem Titel “Brizolismus. Ästhetisierung der Politik und Charisma.”

Der Autor, selbst ein Anhänger Brizolas, ist um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung um den Brizolismus bemüht. Gleich eingangs unterscheidet er zwischen dem “utopischen Brizolismus” und dem “wissenschaftlichen Brizolismus”. Auf den ersten Blick erscheint Brizola als ein Held der Zivilisation, der Charisma, Mut und Eindeutigkeit des Handelns besitzt. Sicher kann er als ein großer Führer der Massen und als ein authentischer Nationalist bezeichnet werden.

Allerdings schließt die Analyse auch die Angriffe und Vorwürfe der Gegner Brizolas ein: Er sei ein Populist, eine Demagoge und hielte nicht sehr viel von der repräsentativen Demokratie. Die Militärs hatten ihn ja immer als ihren Angstgegner gesehen und ihn deshalb als Caudilho, Subversiven, Verführer der Arbeiter-Massen und als Kommunisten bezeichnet.

Unter dem Gesichtpunkt eines Führers, der in der Politik notwendig sei, so der Autor, stände die Gestalt Brizolas zwischen dem Mythos eines subversiven Zerstörers der Ordnung  und dem Vollbringer des Vermächtnisses von Getúlio Vargas. Eine Erörterung über das Verständnis von Nationalismus bei Brizola , geprägt durch Antiamerikanismus und Antiimperialismus, und der allgemeinen Auffassung über den “normalen” brasilianischen Nationalismus wäre in diesem Zusammenhang  sicher wünschenswert.

Erfreulich und den Ansprüchen und Erfolgen Brizolas sicher angemessen scheint mir die Darstellung des “utopischen Brizolismus”. Es ist die Utopie der Integration, der Beteiligung der Ausgeschlossenen, das Bemühen die Massen zu einem selbst aktiven Volk zu werden durch ein intensives politisch-pädagogisches Bildungsprogramm. Es ist der Wunsch, eine starke, autonome Nation zu werden. Es ist die später oft, vielleicht zu oft genutzte Formel von Medellin der “vorrangigen Option für die Armen”.