Bewohner brasilianischer Armenviertel schaffen sich ihre
Arbeitsplätze selbst
von Jerôme Cholet 

Lange standen die Armenviertel Brasiliens abseits des politischen und wirtschaftlichen Lebens. Heute werden die Viertel von engen Netzwerken durchzogen, in denen Einwohnerverbände, Privatwirtschaft und Regierung zusammenarbeiten. Gemeinsam erzielen sie große Fortschritte bei der infrastrukturellen Durchdringung, beim Bau von Straßen, Schulen, aber auch der Versorgung mit Banken und Freizeiteinrichtungen. Doch das Dreierbündnis aus Einwohnern, Wirtschaft und Politik ist zerbrechlich und steht in der Schusslinie des weitverbreiteten Drogenhandels. Zwei Favelas in Rio de Janeiro und Säo Paulo geben ein aktuelles Bild der Tendenzen und Herausforderungen Brasiliens - zwanzig Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur. 

Von unten gleicht die größte Armensiedlung Südamerikas einem griechischen Amphitheater. Die Favela Rocinha ist ähnlich dem Theater von Epidaurus imposant in einen Hang gebaut. Ihre Häuser, die mehr als 200.000 Menschen beherbergen, haben sich in dem Halbkreis angeordnet, den die Berge vorgaben. Die Straßen der Rocinha sind eng und steil, die Häuser dicht aneinander gedrängt. Obwohl nur noch wenig Platz vorhanden ist, wird an fast jeder Ecke gehämmert, gebohrt oder gesägt. Nachdem die Favela mehr als sechzig Jahre in die Breite gewachsen ist, schießt sie nun in die Höhe, vielerorts werden neue Stockwerke einfach auf die vorhandenen Häuser aufgesetzt. 

Das prächtigste Gebäude, fast auf der Spitze des zentralen Hügels, gehört einer kleinen Kooperative von Näherinnen. Die “Coopa Roca” ist das erste Modeuntemehmen mit Weltmarktorientierung in einer Favela - und dem Durchbruch ganz nah. Hier knüpfen, sticken, nähen und häkeln 200 Frauen aus der Armensiedlung jährlich 5.000 Ponchos, Blusen und Kleider. Die Mitarbeiterinnen stammen größtenteils aus dem armen Nordosten Brasiliens und beherrschen daher traditionelle Handarbeitstechniken, die das Interesse der großen Designer in Paris, Mailand, Tokio und New York wecken, darunter beispielsweise die Modemarke Cacharel. 

Unikate für Pariser Designer 

“Wir stellen ausschließlich Unikate her”, sagt Cicera Elizete Magalhães stolz, “nicht einmal ich mache mir eine Kopie der Vorlagen.” Die 45-jährige Mutter arbeitet gerade an einer Stofftasche für einen französischen Nachwuchsdesigner. Zwar sieht man Ciceras Händen die harte Arbeit an, sie beklagt sich jedoch nicht. Vor zwanzig Jahren kam sie aus dem nördlichen Bundesstaat Ceará nach Rio de Janeiro, damals war sie 25 Jahre alt. Ihre Handwerkskünste brachte sie mit, darunter das Fuxico, eine Technik, bei der kleine Stoffblumen geknüpft werden. Ihren außergewöhnlichen Arbeitsplatz verdankt sie der Soziologin Maria Teresa Leal, die die Kooperative vor achtzehn Jahren gründete und ihre Mitarbeiterinnen im vergangenen Jahr erstmals selber auf einen Catwalk schicken konnte - bei der"Säo Paulo Fashion Week". 






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