Friedhelm Schwamborn/DAAD 



KURSäNDERUNG IN DER WISSENSCHAFTSPOLITIK 

Trotz des hervorragenden persönlichen Abschneidens bei der Präsidentenwahl ist Lula angesichts der schmalen Basis im Abgeordnetenhaus und im Senat auf eine Reihe von Kompromissen angewiesen. Die Arbeiterpartei stellt nur drei der 27 Gouverneure - und dies in den wirtschaftlich und politisch unbedeutenden Provinzen Acre, Piaui und Mato Grosso do Sul. Sie erhielt nur 17 Prozent der Sitze im Senat und 18 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus. Angesichts der dadurch erforderlichen Koalitionszwänge stellt die Arbeiterpartei weniger als zwei Drittel der Führungsmannschaft der neuen Regierung. 

Zu den Kompromisskandidaten im Kabinett gehört auch der Minister für Wissenschaft und Technologie, Roberto Amaral. Er wurde von dem früheren Gouverneur von Rio de Janeiro, Anthony Garotinho, benannt, in dessen Brasilianischer Sozialistischer Partei (PSB) er als Vize-Präsident fungiert. Der Rechts- und Sozialwissenschaftler Amaral war bislang weniger als Wissenschaftler denn als Studierendenführer, Journalist und militanter Sozialist aufgefallen. Sein Stuhl wackelte bereits kurz nach der Amtsübernahme, als seine Äußerung zur Notwendigkeit der Verstärkung der Nuklearforschung als Aufforderung zum Bau der Atombombe interpretiert wurde. Trotz sofortiger Dementis gab es besorgte Nachfragen aus Buenos Aires und Washington. Obwohl sich der Ton seiner stark ideologisch geprägten Reden und Aufsätze im Laufe des Jahres etwas mäßigte, lässt der Minister an seiner Grundposition keinen Zweifel erkennen. Auch die Forschungs- und Technologiepolitik muss seiner Meinung nach unmittelbar auf die von Präsident Lula definierten Oberziele der Bekämpfung des Hungers und der Beseitigung der sozialen Ungleichheit ausgerichtet sein. Und dies nicht nur als indirekt und langfristig zu erreichendes Fernziel, sondern auch durch rasche Korrekturen bisheriger Fehlentwicklungen. Dazu zählt er unter anderem die bildungs- und wissenschaftspolitische Vernachlässigung des unterentwickelten Nordens, Nordostens und Mittelwestens. Nach jüngsten Ankündigungen sollen dort Großforschungseinrichtungen entstehen, die sich neben der Grundlagenforschung unverzüglich der Lösung lokaler und regionaler Probleme widmen sollen. Im Gespräch sind ein Biotechnologie-Park in Manaus, ein neurowissenschaftliches Institut in Natal, ein Forschungsinstitut für die semi-ariden Regionen des Nordostens ( Campina Grande) und ein interdisziplinäres Institut für die PantanalForschung in Campo Grande oder Cuiabä. 

Kein Wunder, dass Minister Amaral zur Zielscheibe der Kritik des Wissenschafts-Establishments aus dem brasilianischen Süden und Südosten wurde. Kaum ein Mitglied des Lula-Kabinetts wurde so häufig und so direkt zum Rücktritt aufgefordert und - vor allem von der Presse in Säo Paulo - unter nicht immer fairen Dauerbeschuss genommen. Dabei ist die Einrichtung der oben erwähnten Regionalinstitute, bei denen man zu Recht befürchten muss, dass sie angesichts der fehlenden lokalen Infrastruktur und Personalausstattung zu kostspieligen politischen Denkmälern werden könnten, nur einer von vielen Kritikpunkten. Man vermisst ein schlüssiges wissenschaftspolitisches Konzept mit einer sachlich begründeten Prioritätensetzung und einen erkennbaren Einsatz für eine bessere Mittelausstattung. Die offensichtliche Orientierungslosigkeit betrifft im übrigen auch die internationale Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technologie, die zum Teil über längere Zeit unterbrochen wurde. 


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